Brauchen wir eine Care Revolution?
Fürsorgetätigkeiten werden schlecht oder gar nicht entlohnt. Aber warum bewerten wir die Produktion eigentlich höher als die Reproduktion? Höchste Zeit für ein Umdenken
Es gibt Ungerechtigkeiten, die lassen sich am besten am eigenen Leben veranschaulichen. In diesem Falle also an meinem. Während ich meine Vollzeitstelle in führender Position ausfülle und mein Mann seiner Arbeit als Schriftsteller nachgeht, kümmern sich Erzieherinnen und Erzieher um unseren Sohn in der Kita, die auch schon seine große Schwester besucht hat. Je nach Bedarf wird der kleine Junge nachmittags von unserer Babysitterin abgeholt, die uns seit einem guten Jahrzehnt den Rücken freihält. Ebenfalls einmal die Woche beseitigt unsere Putzfrau den Dreck von vier Menschen.
Was die genannten Personen eint: Ohne sie wäre unser Leben nicht möglich. Und: Sie alle verdienen weit weniger als ich. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Der 50-jährige Erzieher unseres Sohnes bekommt 1400 Euro netto. Wobei die Bezahlung aus seiner Sicht gar nicht das vordringlichste Problem ist, sondern vielmehr der, so seine Worte, „miserable Betreuungsschlüssel“: zu viele Kinder, zu wenig Personal. Es ist so wie in den meisten Fürsorgeberufen, auch Care-Berufe genannt: Die, die sie ausüben, werden unbedingt gebraucht. Trotzdem sind sie unterbezahlt und notorisch nah am Burnout.
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Im Zeitalter immer leistungsstärkerer Denkmaschinen könnte sich an diesen Fragen nicht weniger als die Zukunft unserer Art entscheiden. Höchste Zeit also, gemeinsam darüber nachzudenken