Medusas Macht
Um sich aus der patriarchalen Logik zu befreien, muss die Kraft der Frau einen Weg in die Sprache finden: Diese Einsicht ist wesentlich für das Werk von Hélène Cixous. Doch wie gelingt eine Betonung der Geschlechterdifferenz, ohne die Frau auf ein Wesen festzuschreiben? Ein Besuch in Paris bei einer Ikone der feministischen Theorie und Mitbegründerin der écriture féminine.
Sie empfängt mich in ihrem Wohnzimmer. Ein heimeliges, aber der Außenwelt zugewandtes Interieur: Die blauweißen Fliesen in der Küche, indische und vietnamesische Stoffe – alles weist über ein Frankreich hinaus, das sie nie wirklich angenommen hat. Auch die Vergangenheit ist präsent: Im Bücherregal stehen Porträtaufnahmen von Angehörigen und ihres geistigen Mentors Jacques Derrida. Das Nest von Hélène Cixous liegt im zehnten Stock und bietet einen freien Blick über den Süden von Paris. Die Schriftstellerin hat die Vorhänge zugezogen: Mit 38 Grad ist es ein brütend heißer Tag. Die kühle Luft des Ventilators umschmeichelt meine Arme, ihre zwei Katzen streifen an meinen Beinen entlang. Hélène Cixous hat sich nicht verändert, denke ich mir. Sie trägt immer noch kurzes Haar, das mittlerweile weiß ist und ihr etwas Mönchisches verleiht, an Jean Seberg oder eine Punkerin erinnert – oder ihr einfach die Ausstrahlung einer unabhängigen Frau gibt. Ich bemerke ihren koketten Lippenstift, die stolze Körperhaltung. Hélène Cixous ist eine Ikone, und das weiß sie, aber es hält sie nicht davon ab, mich herzlich zu empfangen. Ihr Blick ist durchdringend, ihre Stimme ruhig und bedacht. Wie wurde sie zu der Frau, die sie heute ist? Cixous stammt aus einer jüdischen Familie. Ihre Mutter wurde in Osnabrück geboren und floh 1929 aus Deutschland nach Algerien, weil sie die drohende Gefahr kommen sah. Andere Familienmitglieder waren rechtzeitig unter anderem nach Chile und Australien ausgereist, Cixous’ Großmutter verließ Deutschland 1938. Alle, die blieben, wurden ermordet. „Ich verstand sehr schnell, was mein besonderes Los war. Ich nahm mich wie reines KZ-Material wahr. Meine Familie mütterlicherseits war deportiert worden, und das wusste ich.“
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Medusas Spiegel
Wie Worte finden für eine Gewalt, die sich gegen Zivilisten richtet, ohne sich dabei auf eine Seite zu schlagen? Der Begriff des „Horrorismus“ kann hier weiterhelfen, meint unsere Kolumnistin Eva von Redecker.

Hélène Cixous: „Beim Schreiben muss man dem Körper alles abverlangen“
Sie ist eine führende Denkerin der Dekonstruktion und avancierte mit ihrer Theorie der Écriture feminine zu einer der einflussreichsten Feministinnen des 20. Jahrhunderts. Im Gespräch erklärt Hélène Cixous, warum ihr Konzept des weiblichen Schreibens auch in Zeiten von #MeToo noch anschlussfähig ist

Judith Butler und die Gender-Frage
Nichts scheint natürlicher als die Aufteilung der Menschen in zwei Geschlechter. Es gibt Männer und es gibt Frauen, wie sich, so die gängige Auffassung, an biologischen Merkmalen, aber auch an geschlechtsspezifischen Eigenschaften unschwer erkennen lässt. Diese vermeintliche Gewissheit wird durch Judith Butlers poststrukturalistische Geschlechtertheorie fundamental erschüttert. Nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern auch das biologische Geschlecht (sex) ist für Butler ein Effekt von Machtdiskursen. Die Fortpf lanzungsorgane zur „natürlichen“ Grundlage der Geschlechterdifferenz zu erklären, sei immer schon Teil der „heterosexuellen Matrix“, so die amerikanische Philosophin in ihrem grundlegenden Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“, das in den USA vor 25 Jahren erstmals veröffentlicht wurde. Seine visionäre Kraft scheint sich gerade heute zu bewahrheiten. So hat der Bundesrat kürzlich einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der eine vollständige rechtliche Gleichstellung verheirateter homosexueller Paare vorsieht. Eine Entscheidung des Bundestags wird mit Spannung erwartet. Welche Rolle also wird die Biologie zukünftig noch spielen? Oder hat, wer so fragt, die Pointe Butlers schon missverstanden?
Camille Froidevaux-Metteries Essay hilft, Judith Butlers schwer zugängliches Werk zu verstehen. In ihm schlägt Butler nichts Geringeres vor als eine neue Weise, das Subjekt zu denken. Im Vorwort zum Beiheft beleuchtet Jeanne Burgart Goutal die Missverständnisse, die Butlers berühmte Abhandlung „Das Unbehagen der Geschlechter“ hervorgerufen hat.
Bruno Latour: „Eine Wahrheit festzuschreiben, hat seinen Preis“
Er war einer der einflussreichsten Philosophen der Welt. Nun ist er in Paris gestorben. In diesem Interview illustriert Bruno Latour seine Vision von Ökologie, spricht über sein ganz persönliches Verhältnis zu Krankheit und Tod und erklärt, warum er Nietzsche für einen Kirchenvater hält.

Dem Körper Gehör verschaffen
Als Denkerin der Unterwanderung gibt Hélène Cixous dem Ausgeschlossenen eine Stimme. Ihr Konzept der écriture féminine prägt Feminismus und Queer- Theorie bis heute.

Was ist feministische Außenpolitik, Frau Ruppert?
Seit Außenministerin Baerbock ihren Kurs als „feministische Außenpolitik“ bezeichnet hat, ist der Begriff in aller Munde. Die Politikwissenschaftlerin Uta Ruppert erläutert, worum es bei diesem Konzept in Wahrheit gehen sollte: nämlich um die Aushebelung einer patriarchalen Logik, die gerade im Krieg am Werk ist.

Kwame Anthony Appiah: „Für universelle Kämpfe müssen Menschen nicht ihre Identitäten aufgeben“
Der Mord an George Floyd hat zu weltweiten Protesten geführt – und dabei die drängende Frage aufgeworfen, welche Rolle die ethnische Identität im Kampf gegen Rassismus spielen darf und sollte: Wie rassistische Strukturen entlarven, ohne die Differenz schwarz-weiß abermals festzuschreiben? Ist Identität ein Werkzeug der Unterdrückung und Einengung – oder der Befreiung? Der in New York lehrende Philosoph Kwame Anthony Appiah über den Zusammenhang von Antirassismus und Ethnizität, Joe Bidens Wahl von Kamala Harris als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft – und den Beginn einer moralischen Revolution.

Feministische Neuerzählungen: Regressiver als das Original?
Helena, Medea und Medusa – die griechische Mythologie erlebt in der feministischen Belletristik eine Renaissance. Doch sind die Ursprungsmythen bei näherem Hinsehen emanzipativer als ihre Adaptionen. Eine Kritik von Cara Platte.
