Nancy Fraser: „Wir müssen die Werte auf den Kopf stellen“
Nächste Woche erscheint Nancy Frasers Buch Der Allesfresser. Im Frühjahr 2022 haben wir mit ihr über den Kapitalismus als kannibalisches System und die Rolle der NATO gesprochen.
Frau Fraser, im Frühjahr erscheint Ihr neues Buch Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Darin und in den Benjamin Lectures, die Sie hier in Berlin halten, setzen Sie sich mit den Problemen gegenwärtiger Gesellschaftsstrukturen und den Folgen eines globalen Kapitalismus auseinander. Was können wir unter „kannibalischem Kapitalismus“ verstehen?
Lassen Sie mich mit dem Begriff des Kannibalismus beginnen. Damit meine ich nämlich nicht nur den Begriff, der verwendet wurde, um Schwarzafrika zu stigmatisieren. Ich muss gestehen, dass es mir eine gewisse Genugtuung verschafft, den Spieß jetzt umzudrehen und den Begriff Kannibalismus auf die Klasse der Kapitalisten anzuwenden, die sich, wie ich in meinem Buch zu zeigen versuche, von allen anderen ernährt, einschließlich eben jenen Schwarzafrikanern, die selbst des Kannibalismus beschuldigt wurden. Eine abstraktere Bedeutung, die Sie im Wörterbuch finden, lautet in etwa: Ein Unternehmen kannibalisiert ein anderes, wenn es Funktionen und Kompetenzen, die das andere zum Überleben benötigt, abzieht, um sich daran zu bereichern. Meine These ist, dass kapitalistische Gesellschaften genau diese Art von Beziehung zwischen dem Wirtschaftssystem und dem nicht-wirtschaftlichen Teil des Systems herstellen. Zu den Hintergrundbedingungen des Kapitalismus zählen die Care-Arbeit, die soziale Reproduktion, die Gesundheit sowie rassifizierte und enteignete Bevölkerungsgruppen, die vom offiziellen Wirtschaftssystem marginalisiert und von der öffentlichen Gewalt ausgeschlossen werden. Es geht also um all die öffentlichen Güter, die zwar vom Staat und anderen Kräften bereitgestellt, selbst aber nicht als Waren gezählt werden. Dies sind Formen des Reichtums, auf die das Wirtschaftssystem angewiesen ist. Auch die Natur muss dazugezählt werden. Sie ist eine Grundlage, die durch den wirtschaftlichen Fokus auf Akkumulation kannibalisiert wird.
Wenn Sie nun davon sprechen, dass der Kapitalismus die eigenen Grundlagen auf ökologischer und reproduktiver Ebene vernichtet, impliziert dies nicht, dass die Sphären der Ökologie und der Familie von vornherein in die kapitalistische Sphäre gerechnet werden? Sollte es nicht aber darum gehen, sie genau aus dieser Sphäre zu befreien?
Hier müssen wir uns nun dem zweiten Begriff zuwenden und fragen: Was ist Kapitalismus? Ich biete eine, wie ich es nenne, erweiterte Definition. Es ist ein Fehler, den Kapitalismus einfach als ein Wirtschaftssystem zu betrachten. Hier folge ich Karl Polanyi, der die These vertritt, dass die Wirtschaft nur ein Bereich des sozialen Systems ist, der im Kapitalismus aber dazu lizenziert ist, die anderen Bereiche aufzufressen, um systematisch Land, Arbeit und Geld zu dezimieren, zu destabilisieren oder zu zerstören. Ich denke also, dass wir vom Kapitalismus in diesem weiten Sinne sprechen sollten, um Familien, Gemeinschaften, die Natur, staatliche Systeme und öffentliche Güter sowie die Randzonen, die oft die rassifizierten Zonen sind, einzubeziehen. Und wenn wir all diese Dinge einbeziehen, dann können wir sagen, dass sie außerhalb der Wirtschaft stehen, aber innerhalb der kapitalistischen Ordnung. Und was wir letztendlich wollen, ist, sie zu befreien.
Aber gibt es in Ihrer Logik ein Außen des Kapitalismus?
Ich denke eigentlich nicht. Diese Dinge sind von der Ordnung so geprägt, dass sie sich als das Andere der Wirtschaft erweisen. Die Familie ist das Andere des Arbeitsplatzes, die soziale Reproduktion und die Care-Arbeit, die wir mit der Familie verbinden, sind das Andere der Produktion und die Natur ist das Andere der Gesellschaft. Die Familie z. B. hat ihre spezifische Form angenommen aufgrund der Funktionen, die sie in Bezug auf die Wirtschaft, den Staat und den Markt übernehmen musste. All diese Dinge sind Gegensätze, die zum Teil ideologisch, zum Teil aber auch real sind, weil die Institutionen auf diese Weise geprägt wurden. Sie stehen nicht außerhalb des sozialen Systems, auch wenn sie als solche dargestellt werden.
Was meinen Sie genau, wenn Sie sagen, dass der Kapitalismus sein eigenes Reproduktionspotenzial untergräbt? Wie konnte das passieren?
Ich denke, dass es sich hier eher um Tendenzen als um eherne Gesetze handelt. In einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung gibt es eine Tendenz zur Selbstzerstörung, d. h. eine Tendenz zur Destabilisierung der Bedingungen, die für das Gelingen der Gesellschaft notwendig sind. Es besteht die Tendenz zur Destabilisierung der Fürsorge, der familiären und sozial produktiven Bedingungen sowie zur Aushöhlung der öffentlichen Institutionen, Güter und Infrastrukturen. Der Kapitalismus hat eine Geschichte mit unterschiedlichen Phasen. In jeder Phase können wir verschiedene Beziehungen zwischen den Fabriken und den Familien, der Gesellschaft und der Natur, der Mehrheitsbevölkerung und der rassifizierten Bevölkerung beobachten. Jede dieser Phasen hat ihre eigene Art, die Widersprüche, die der Kapitalismus generiert, zu bewältigen. Momentan haben wir eine sehr brutale Art von Kapitalismus, in dem sogar die partiellen Schutzmaßnahmen vergangener Tage – ich denke dabei besonders an den sozialdemokratischen geprägten und staatlich geleiteten Kapitalismus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts –, aufgehoben werden. Wir sehen einen Frontalangriff auf ein ganzes System der sozialen Versorgung und der öffentlichen Systeme. So werden beispielsweise die öffentliche und die private Pflegearbeit zunehmend den Familien aufgebürdet. Wir sehen nicht nur neue Formen der räuberischen Verschuldung und Enteignung, sondern werden auch Zeugen von einer kontinuierlichen Aushöhlung der öffentlichen Institutionen und des Gesundheitswesens durch fehlende Investitionen. Ausnahmen sind lediglich das Militär und die Polizei. Diese Bereiche bleiben konstant stark. Wir leben also in einer besonders destabilisierten Form des Kapitalismus und damit in einer Periode der kapitalistischen Krise in einem mehrdimensionalen Sinn. Denn es handelt sich nicht nur um eine wirtschaftliche Krise oder eine Krise der prekären Arbeit, des sinkenden Lebensstandards und zunehmender sozialer Ungleichheit, sondern auch um eine Krise der Pflege, der Ökologie und der Staatsführung.
Wenn Sie darauf hinweisen, dass das kapitalistische System seine eigene Grundlage – das Reproduktionspotenzial – untergräbt, argumentieren Sie dann, dass Pflegearbeit noch stärker als Arbeit anerkannt und entsprechend entlohnt werden sollte? Oder anders gefragt: Wie erstrebenswert ist es, sämtlich soziale Handlungen in die ausbeuterische Logik des Kapitalismus einzubeziehen? Sollte nicht beispielsweise die Betreuung eines Kindes jenseits einer solchen Logik verstanden werden?
Das ist ein wichtiger Punkt. Feministische Wirtschaftswissenschaftlerinnen wie Nancy Folbre haben dieses Dilemma sehr schön formuliert. Auf der einen Seite sind sie sehr daran interessiert, offenzulegen, wie grundlegend und notwendig Care-Arbeit ist. In diesem Sinne versucht man, die dafür aufgewendeten Stunden zu quantifizieren und zu zeigen, dass Care-Arbeit tatsächlich eine Form von Reichtum und Kompetenz ist, auf die die Gesellschaften angewiesen sind. Sie zeigen, dass diese Praktiken keinen Wert im kapitalistischen Sinne schaffen, sondern selbst eine Form von Reichtum sind. Andererseits jedoch, wenn man anfängt, Care-Arbeit zu quantifizieren, ist es fast so, als würde man darum betteln, dass die Praktiken irgendwie kapitalistisch vereinnahmt werden. Und das ist ein Problem. Der Wohlfahrtsstaat war ein Versuch, beides miteinander zu vereinen, Care-Arbeit als öffentliches Gut zu behandeln, aber nicht als Ware. Es war ein Versuch, mit diesem Dilemma umzugehen, auch wenn es sicherlich keine stabile Lösung war und nur für einige Leute für eine gewisse Zeit funktionierte. Man verfolgte das Ziel, zwei Meistern zu dienen: dem Kapitalismus und den Menschen. Das war gut, auch wenn es nur für den wohlhabenden Teil der Welt war.
Was wäre eine langfristig bessere Lösung?
Heutzutage brauchen wir eine radikalere Lösung, die eine grundlegendere Umgestaltung des Kapitalismus beinhalten muss. Die COVID-Pandemie hat sich in gewissem Sinne als eine großartige Lektion in Gesellschaftstheorie erwiesen, auch wenn sie zugleich eine humanitäre Katastrophe war. In den Vereinigten Staaten sind inzwischen mehr als eine Million Menschen an COVID gestorben. Das ist ein Siebtel aller Opfer weltweit, dabei haben die USA nicht annähernd ein Siebtel der weltweiten Population. Wir haben 300 Millionen Staatsbürger und damit gerade 1/25 der Weltbevölkerung. Das zeigt, was für ein hoffnungsloser Fall die Vereinigten Staaten sind. Die Amerikaner wissen nicht einmal, was das heißt. Sie wissen, dass sie eine Menge Menschen verloren haben. Aber sie haben nicht begriffen, was das, statistisch gesehen, bedeutet. Wie viel schlechter es uns ergangen ist als allen anderen, auch viel, viel ärmeren Ländern. COVID war eine lehrreiche und zugleich schreckliche Lektion in Sozialtheorie.
Wie meinen Sie das?
Durch die Pandemie wurde deutlich, welche Formen von Arbeit die Gesellschaft wirklich braucht. Es ist notwendig, in diese Arbeit zu investieren und die vorhandenen Energien und Fähigkeiten zu fördern. Zugleich müssen die Arbeitenden angemessen bezahlt werden. Viele von ihnen werden so gut wie gar nicht bezahlt und wie Dreck behandelt. Das zeigt uns, wie schlecht die kapitalistischen Arbeitsmärkte bei der Bewertung des wahren Wertes verschiedener Formen von Arbeit sind. Eine Schlussfolgerung, die ich daraus ziehe, ist, dass wir ein Sozialsystem brauchen, das nicht den sozialen und ökologischen Reichtum ausbeutet. Aktuell saugt der Kapitalismus diesen aus und verzichtet darauf, den erzeugten Schaden zu reparieren oder zu ersetzen. Diese Logik ist grundlegend für den Kapitalismus. Der neoliberale Kapitalismus ist eine extreme Form des Ausschlachtens und Schädigens. Ich denke, ein nachhaltiges soziales System muss nach dem Prinzip funktionieren, das ich „pay as you go” nenne. Man muss das, was man verbraucht, ersetzen und das, was man beschädigt, laufend reparieren. Man kann nicht einfach sagen: Darum sollen sich später andere Leute, künftige Generationen oder die arme schwarze Bevölkerung am anderen Ende der Welt kümmern. Das ist kein nachhaltiger Weg. Dies ist ein Grundsatz, den ich für sehr wichtig halte und der in einem lebensfähigen Sozialsystem im Mittelpunkt stehen muss.
Lassen Sie uns kurz auf das Dilemma der feministischen Bewegungen zurückkommen. Wie können wir es aufheben?
Nun, ich kann Ihnen dafür keine Blaupause liefern. Aber ich kann Ihnen einige der Grundsätze nennen, die für eine Lösung gelten müssen. Einer davon ist, dass keine Lösung auf Kosten einer bestimmten Gruppe von Menschen gehen darf, die verarmt, ausgebeutet und enteignet wird. Ein anderer ist der, den ich gerade genannt habe. Man kann die Kosten nicht auf die Zukunft abwälzen. Sie müssen dafür bezahlen, wenn Sie es tun. Wenn die Pflegearbeit eine absolut grundlegende und unverzichtbare Form des sozialen Beitrags ist, dann muss sie nicht nur in Bezug auf die Art und Weise, wie sie vergütet wird, aufgewertet werden, sondern auch hinsichtlich ihrer Wertschätzung. Ich denke, wir müssen die Werte auf den Kopf stellen und sagen, dass wir die Pflege nicht als Requisit für eine profitable Produktion betrachten, sondern die Produktion als Requisit für die Pflege menschlicher Beziehungen. Damit ist nicht der Lohn für Hausarbeit gemeint oder irgendeine dieser alten feministischen Forderungen, bei denen es übrigens immer darum ging, etwas sichtbar zu machen und nicht buchstäblich um den Lohn. Menschen statt Profite, das sind nur Schlagworte. Aber sie sind offensichtlich und sie sind richtig. Das sind die wahren Quellen des Reichtums, die kultiviert und gepflegt werden müssen.
Ihre Arbeit liest sich zum Teil so, als würden Sie behaupten, dass rassistische und feministische Kämpfe letztlich nur jenseits des Kapitalismus gelöst werden können. Das erinnert an den sogenannten Hauptwiderspruch einer marxistischen Theorie. Können die angesprochenen Probleme nicht auch innerhalb des Kapitalismus gelöst werden?
Zunächst muss geklärt werden, was wir damit meinen. Theoretisch kann man eine Welt haben, in der die Hälfte der Viersternegeneräle, die den Nuklearknopf drücken können, oder die Hälfte der Konzernchefs, die alle bis in die Vergessenheit ausbeuten oder Treibhausgase ausstoßen, Frauen sind. Aber das ist nicht meine Vorstellung von Feminismus. Das wird die Bedingungen für 99 % der Frauen, Männer und Kinder nicht verbessern. Ein Teil des Problems besteht darin, dass wir über Feminismus auf die falsche Weise nachdenken. Wir denken, dass es eine Reihe von Themen gibt, die Frauen betreffen und die völlig losgelöst sind von menschlichen Themen. Und die einzigen Frauen, denen diese Denkweise hilft, sind Frauen, für die diese menschlichen Fragen kein Problem darstellen, weil sie reich sind und sich nicht darum kümmern müssen. Genauso verhält es sich mit den isolierten Umweltschützern. Einseitiger Umweltschutz, der besagt, dass wir uns nicht um den Lebensunterhalt der Menschen kümmern müssen, der meint, man müsse sich um nichts anderes kümmern als um den Planeten.
Was ist daran problematisch?
Nun, das ist die Umweltpolitik der Reichen. Sie sind die Einzigen, die die Verteidigung der Natur von der Verteidigung von Familien, Gemeinschaften und Gesellschaften trennen können. Also ja, man kann Unternehmensfeminismus im Kapitalismus haben. Man kann auch mit genügend Einkommen einen grünen Kapitalismus oder einen unternehmerischen Antirassismus haben. Aber das ist nicht die Lösung für den Rassismus, wie ihn die meisten people of colour verstehen. Das hat nichts mit einem Hauptwiderspruch zu tun. Meine Idee ist nicht, dass wir alle unsere Geschlechterfragen, Fragen rassistischer Diskriminierung und alle ökologischen Fragen auf die lange Bank schieben und eine sehr traditionelle Form des Sozialismus verteidigen sollten, die sich nur auf die Interessen von weißen Fabrikarbeitern, Bauarbeitern und Bergleuten konzentriert. Nein, wir müssen eine völlig andere Vorstellung davon haben, was Sozialismus und wer die Arbeiterklasse ist. Zur Arbeiterklasse gehören all jene, die in der Pflege arbeiten und die zum Teil stark unterbezahlt oder gar nicht bezahlt werden. Dazu gehören sowohl Migranten als auch alle marginalisierten und an den Rand gedrängten Menschen. Es ist eine andere Vorstellung davon, was Sozialismus, die Arbeiterklasse und was Feminismus ist. Das ist nicht der Hauptwiderspruch.
Sie haben betont, dass es heute eine wachsende Zahl von radikalen Transformationsbewegungen wie MeToo, Black Lives Matter, Podemos oder Occupy gibt, in denen Sie Ansätze zur Überwindung repressiver, ausbeuterischer und unterdrückender sozialer und politischer Strukturen sehen. Wie können diese Bewegungen es schaffen, eine breite, öffentliche Mehrheit zu gewinnen?
Die meisten der von Ihnen genannten, so hoffnungsvoll klingenden Beispiele sind auf die eine oder andere Weise zerfallen. Das heißt aber nicht, dass sie nicht wiederbelebt werden können. Mit Antonio Gramsci lässt sich der aktuelle Moment als Interregnum beschreiben – ein Zwischenzustand. Das Alte liegt im Sterben. Das Neue ist noch nicht fähig, geboren zu werden. Dazwischen ist das Interregnum. Dort treten alle möglichen morbiden Symptome auf. Das ist eine perfekte Beschreibung für die gegenwärtigen Ereignisse. Dabei sind die morbiden Symptome hauptsächlich auf der Seite des autoritären Rechtspopulismus, in der Anti-Impf-Bewegung, bei den Klima- und COVID-Leugnern sowie bei jeder Form von sogenannten alternativen Fakten zu sehen. Aber es gibt auch einige problematische Symptome auf der linken Seite, wie z. B. der extreme Wokeism oder die Cancel Culture. Letztlich muss es darum gehen, die Kräfte, die sich jetzt aus dem einen oder anderen verrückten Grund den autoritären Rechtspopulismus hingezogen fühlen, zurückzugewinnen. Ihnen muss eine emanzipatorischere und glaubwürdigere Alternative geboten werden. Und deshalb müssen wir uns daran machen, sie zu entwerfen, zu gestalten und zu artikulieren.
Worin sehen Sie den Grund für den Wunsch nach Wiedereinführung des Abtreibungsverbots in den USA? Sind die scheinbar regressiven Tendenzen als eine Reaktion auf die von Ihnen beschriebenen progressiven Bewegungen zu verstehen? Oder wie verhalten sich diese scheinbar gegensätzlichen Bewegungen zueinander?
Das ist eine wirklich interessante Frage, denn wie immer müssen wir dabei über das Kapital und die großen Konzerne sprechen. Sie sind interessanterweise für die Abtreibung. Sie wollen Frauen am Arbeitsplatz. Mit der Einwanderung verhält es sich genauso. Die Konzerne wollen Einwanderung. Aber die politischen Führungsebenen wollen keine Abtreibung und sie wollen nicht, dass nicht-weiße Menschen die Macht übernehmen. Wir haben es also mit einer komplizierten Situation zu tun. Es gibt hier mehr als eine Seite. Wenn Sie glauben, dass es hier einfach nur um den Kampf zwischen christlichen Fundamentalisten gegen Progressive geht, dann liegen Sie falsch. Es geht um mehr als nur das. Wir können das Recht auf Abtreibung gerade jetzt verteidigen. Das müssen wir tun. Wir müssen dabei vielleicht eine bestimmte Art von Bündnis mit Unternehmen eingehen, wir dürfen ihnen dabei aber nicht erlauben, die feministische Agenda zu diktieren. Denn ihr Feminismus ist nicht der Feminismus der 99 %. Was eine kritische Theorie zu bieten hat, ist, die Widersprüche aufzuzeigen, und uns zu helfen die Fallen zu verstehen, die auf uns politisch warten.
Leider kommen wir an einem Thema nicht vorbei: der Krieg in der Ukraine. Wie beurteilen Sie die Rolle der USA im Krieg in der Ukraine? Warum wurden in den letzten Wochen seitens der USA keine diplomatischen Bemühungen mehr unternommen um den Krieg zu beenden?
Zunächst einmal bedeutet die Tatsache, dass wir keine diplomatischen Bemühungen gesehen haben, nicht, dass es keine gibt. Ich gehe davon aus, dass hinter den Kulissen etwas vor sich geht. Es könnte sein, dass es Stellvertreter gibt, die im Namen der USA verhandeln. Das kommt im Nahen Osten häufig vor. Ich habe also keinen Zugang zu allen Fakten. Aber ich kenne die Geschichte. Und in der Geschichte haben die USA eine schreckliche Rolle gespielt. Um zu verstehen, was ich damit meine, müssen wir mindestens bis ins Jahr 1989 zurückblicken. Gorbatschow hat uns damals ein Geschenk gemacht. Er sagte, bringt uns nach Europa. Das damalige Handeln der USA, der NATO und der sogenannten „freien Welt“ war skandalös, so als ob die Alliierten 1945 gesagt hätten, wir lösen uns nicht auf, wir werden Deutschland isolieren und keinen Marshallplan umsetzen. Wir werden die Deutschen da draußen lassen und wir werden sie dabei niemals aus den Augen verlieren. So ist es im Iran und in Afghanistan geschehen. Jede Erweiterung der NATO war eine weitere Provokation, eine weitere Isolation. Die Dummheit und die Kriminalität dieses Vorgehens kann nicht übertrieben werden. Nichts von alldem verteidigt Putin, der ein Kriegsverbrecher, ein Autokrat und ein Unterdrücker ist. Aber zum Tango gehören immer zwei. Und die Rolle der USA war wichtig. Ich bin nicht dafür, jemanden zu bewaffnen. Aber ich muss sagen, dass die PR-Fähigkeiten von Selenskyj ganz außergewöhnlich sind. Die halbe Welt läuft inzwischen mit blau-gelben Fahnen herum. Wenn wir uns die ukrainische Regierung jedoch etwas genauer ansehen würden, müssten wir vielleicht ein wenig innehalten, denn auch dieses ist ein schreckliches Regime. Aber hier sind wir, und wir stecken in einem riesigen Schlamassel.
Halten Sie es auch für einen Fehler, dass Schweden und Finnland der NATO beitreten wollen?
Aber ja! Das ist so, als würde man Raketen auf Kuba stationieren, was die Sowjets versucht haben.
Was halten Sie von dem Argument, dass Finnland und Schweden nur aus Angst vor einer russischen Invasion der NATO beitreten möchten?
Ich bin nicht auf der Seite von Russland. Russland hat Atomwaffen so wie viele andere auch: Israel, Indien, Pakistan. Das ist furchtbar. Ich kann auch nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass Russland keine Pläne hinsichtlich einer Invasion Finnlands hat, aber es würde mich sehr überraschen, wenn es so wäre. Es gibt hier eine Logik, den Bösewicht zu isolieren. Ich weiß nur, dass das alles nicht hätte sein müssen. Aber es ist geschehen. Was wir jetzt tun müssen, ist verhandeln, verhandeln, verhandeln.
Wenn Sie sagen, dass es ein Fehler ist, den Bösewicht zu isolieren, könnte entgegnet werden, dass Putin ganz offensichtlich ein Herrscher mit imperialen Bestrebungen ist und wir ihn deshalb zu Recht isolieren.
Natürlich ist er das. Andererseits denke ich aber, dass wir alle wissen, wie eine diplomatische Lösung aussieht. Russland wird den Donbass bekommen. Das wird die Lösung sein. Lassen wir das geschehen. Odessa ginge zu weit. Die Frage ist nur, wie man dorthin kommt. Wir wissen, wie die Lösung im Nahen Osten aussehen sollte. Jeder weiß es seit 30 Jahren. Wie kommt man aber dorthin? Einzig über einen Landhandel. Das ist letztlich gar nicht so schwierig. •
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Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.