Chinas Philosophie fürs All
Jede Raumfahrtnation lädt ihre Missionen mythisch auf. Welche Hoffnung hinter der Chinas steht, wird deutlich, wenn man sich das Konzept der Tiānxià näher ansieht.
Seit knapp zwei Wochen nun befinden sich drei chinesische Astronauten auf der Raumstation „Tiangong“, was übersetzt „Himmelspalast“ bedeutet. Ihre Aufgabe besteht darin, bestimmte Module fertigzustellen und sie für die Forschungen künftiger Taikonauten, wie chinesische Astronauten ebenfalls genannt werden, zu präparieren.
Ähnlich wie bei anderen Nationen ist auch das chinesische Weltraumprogramm stark narrativ, ja beinahe mythisch aufgeladen. Die USA präsentieren ihre Ausdehnung in die unendlichen Weiten als Überwindung einer neuen letzten Grenze, als „really last frontier“ mit Anleihen an die Eroberung des damals neuen Kontinents. Die Sowjetunion operierte wiederum mit dem Frame marxistischer Science-Fiction sowie russischem Kosmismus und berief sich so ebenfalls auf die eigene Geschichte. Welchen Mythos bemüht China nun für seinen Ansturm aufs Weltall?
Seit fünf Jahren schickte das Land keinen bemannten Flug mehr ins All. Umso pompöser wird die Wiederaufnahme des Programms jetzt gefeiert. Dass am 1. Juli der 100. Jahrestag der Kommunistischen Partei Chinas bevorsteht, treibt die patriotisch-symbolischen Kosten des Unterfangens nur noch weiter in die Höhe. Dass China gegenüber dem Rivalen USA auch bei der interstellaren Expansion seine Macht demonstrieren will, scheint dabei offensichtlich. Doch erschöpft sich der narrative Treibstoff des Projekts darin keinesfalls, wie die Sinologin und Professorin am Collège de France Anne Cheng erläutert. China gehe es nämlich auch und vor allem um seine eigene Wahrnehmung.
Harmonie als Ideal
Laut Cheng versteht sich das Land seit mehr als zwei Jahrtausenden als Tiānxià (天下), wörtlich also als „alles, was unter dem Himmel ist“. Anders als ein weiterverbreitetes Vorurteil nahelegt, rühmt sich China damit aber keineswegs, das Zentrum der Welt zu sein, sondern präsentiert sich vielmehr „als die Welt“ selbst. Dieser universelle Raum des Tiānxià wurde traditionell vom Tiānzǐ (天子) regiert: dem Sohn des Himmels, ein anderer Name für den Kaiser. In der chinesischen Vorstellung bestand somit schon immer eine Verbindung zwischen dem politischen Herrscher und dem gesamten Kosmos. Oder anders gesagt: zwischen der weltlichen und der Ordnung des Alls.
Darauf weist auch der Soziologe Ji Zhe vom Pariser Institut national des langues et civilisations orientales (Inalco) in einem Text hin, in dem er sich mit Konfuzius‘ Buch der Lieder beschäftigt. Darin heißt es: „Der ganze Himmel ist nichts weiter als der Boden von Wang“, wobei Wáng (王) ein chinesisches Wort ist, das auch für die Ansprache des Kaisers benutzt wird. Während der Herrscher eine besondere Beziehung zum Himmel pflegt, bestehe Konfuzius darauf, dass jeder danach streben sollte, „unter dem Himmel zu sein“. Das universell angestrebte Ideal ist also eines der „Harmonie zwischen Himmel und Mensch“ (天人合一, Tiān rén hé yī).
Wie im Himmel, so auf Erden?
Diese Idee von Harmonie ist auch der Grund, dass China, anders als Europa, seit jeher eine positive Beziehung zum Himmel und damit zur Astronomie unterhält. So baute der chinesische Ingenieur Su Song im Auftrag des Kaisers Song Zhezong bereits 1088 eine äußerst komplexe astronomische Uhr, die Mondphasen sowie die Bewegungen der Sternbilder mechanisch sehr akkurat darstellen konnte. Während in Europa die meisten jener Wissenschaftler, die sich der Astronomie verschrieben hatten, verfolgt wurden, da ihre Forschung die Autorität der Heiligen Schrift widersprach, standen Astronomen in China der politischen Macht näher und wurden in ihrer Arbeit umfassend unterstützt. Ihr Wissen firmierte nicht als Bedrohung, sondern galt ganz im Gegenteil als herrschaftsstabilisierend, da irdische Ordnungen mit Verweis auf kosmische Regelmäßigkeiten gerechtfertigt und so leichter etabliert werden konnten.
Doch wenn China sich als „alles unter dem Himmel“ versteht, ist dann die Eroberung eben dieses Himmels nicht paradox? Womöglich sogar ein tiefgreifender Paradigmenwechsel in der Geschichte des Landes? Nein, denn tatsächlich handelt es sich eher um den letzten Schritt hin zur Vervollständigung des bereits angesprochenen Ideals von Harmonie zwischen dem Himmel und der Welt der Menschen. Der beste Weg, um eins mit dem Himmel zu werden, ist immer noch, ihn zu erreichen – und zwar buchstäblich. Vor diesem Hintergrund wird auch der Name der Raumstation „Himmelspalast“ verständlich: Die Macht der chinesischen Regierung hat ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht, die in der Eigenwahrnehmung den irdischen Raum übersteigt.
Dennoch bleibt überraschend – um nicht zu sagen ironisch –, dass eine Kommunistische Partei, die sich jahrelang damit brüstete, jegliche imperiale Vergangenheit auszulöschen und sogar versucht hatte, die Lektüre von Konfuzius zu verbieten und durch Parteischriften zu ersetzen, nun eben diese konfuzianischen Konzepte nutzen will, um die eigene Macht zu behaupten. Recht besehen, hat dieser Zug dann allerdings doch nichts allzu Überraschendes. Schließlich gehen Geschichtsrevisionismus, angeordnetes Vergessen und Propaganda seit jeher Hand in Hand.•
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