Jan-Werner Müller: „Auch Autokraten sind lernfähig“
Die Demokratie gerät durch autoritäre Kräfte immer weiter unter Druck. Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller erklärt, warum über Autokraten oft falsche Annahmen herrschen, welche entscheidende Frage man an politische Eliten richten sollte und weshalb sich hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch in die Zukunft blicken lässt.
Herr Müller, in Ihrem aktuellen Buch Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit fragen Sie nach den Grundprinzipien der demokratischen Regierungsform. Haben wir für solch eine theoretische Betrachtung angesichts der gerade hitzig debattierten „Krise der Demokratie“ allerdings überhaupt noch Zeit?
Diese Zeit sollten wir uns mindestens aus zwei Gründen nehmen. Erstens muss man sich die Mühe machen, eine klare Linie zu finden zwischen politischen Positionen, die man für normativ fehlgeleitet hält, aber die nicht eine Bedrohung für die Demokratie an sich darstellen, auf der einen Seite – und, auf der anderen Seite wirklichen Bedrohungen. Immer sofort „Krise der Demokratie“ zu schreien, kann kontraproduktiv sein. Zweitens gibt es die „rechtspopulistische Welle“ nicht, die seit der Wahl Donald Trumps und dem Brexit-Referendum im Jahr 2016 oft heraufbeschworen wurde. Wer von einer „Welle“ spricht, suggeriert etwas quasi Natürliches, das nicht aufzuhalten ist. Die Ausbreitung des Rechtspopulismus hat allerdings nichts Unvermeidliches, wenn man genau hinsieht.
Wir haben beim Thema Rechtspopulismus in der Vergangenheit also oft nicht genau genug hingesehen?
Unter anderem herrschten über Autokraten lange beispielsweise folgende zwei Annahmen. Dass nur sie sich einer gefährlichen Vereinfachung bedienen würden und dass autokratische Regime praktisch nicht lernfähig wären, weshalb ihnen die Demokratie schlichtweg systemisch überlegen sei. Wer allerdings genauer hinsieht, wird feststellen, dass beides nicht ganz richtig ist. Denn zum einen sind auch diejenigen oft mit reichlich simplizistischen Rezepten bei der Hand, die sich auf der „richtigen Seite“ wähnen, etwa wenn sie es sich mit historischen Analogien sehr einfach machen. Und zum anderen müssen wir nur in unsere Nachbarschaft blicken, um zu sehen, dass auch Autokraten lernfähig sind. So ist beispielsweise doch sehr offensichtlich, dass der Ministerpräsident Ungarns, Viktor Orbán, dem Vorsitzenden der polnischen Regierungspartei PiS, Jarosław Kaczyński, 2015 bis 2016 so etwas wie eine praktische Anleitung des Kleinen Einmaleins für Populisten übergeben hat. Hier wurden und werden Ratschläge ausgetauscht, wie man die EU für ein paar Jahre zum Narren hält und dennoch die Gelder kassiert etc. Einsehen zu müssen, dass auch Autokratien lern- und anpassungsfähig sind, war für einige die bitterste Lektion seit dem Ende des Kalten Krieges.
Was sind die Gründe dafür?
Im Grunde ist es das epistemische Argument, das ich bereits angedeutet habe. Lange sagte man, dass in einer Demokratie zwar ständig Fehler gemacht würden, sie aber dennoch das einzig lernfähige System sei, weil diese Fehler korrigierbar sind. Die Autoritären hingegen seien alle stupide und könnten keine Fehler zugeben, geschweige denn diese korrigieren. Man ging davon aus, dass all diese autoritär geführten Staaten früher oder später enden würden wie die Sowjetunion 1991. Nun gibt es zwar immer noch gute Gründe dafür, dass auch autoritäre Systeme massive Probleme auf sehr vielen Ebenen haben. Ich bin niemand der in China den Beweis dafür sieht, dass das auch autoritär alles wunderbar funktionieren kann. Aber auch hier ist die Vorstellung eines bestimmten Automatismus präsent. Auch hier gehen wir irgendwie davon aus, dass sich schon alles in Richtung Demokratie entwickeln wird, weil Autoritäre oder Populisten am Ende sowieso nicht regieren könnten.
Festzuhalten ist also, dass auch autoritäre Herrscher voneinander lernen. Allerdings scheinen auch Lektionen aus der Geschichte bei derartigen Regimen auf fruchtbaren Boden zu fallen.
Zumindest im europäischen Kontext ist relativ deutlich, dass viele Akteure mittlerweile selber wissen, dass sie keine Bilder produzieren dürfen, die das internationales Publikum zu sehr an die Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts erinnert. Natürlich gibt es auch Ausnahmen wie Lukaschenko, der sich nicht mehr wirklich darum kümmert, wie das im Fernsehen aussieht oder was man in der Europäischen Union von ihm denkt. Orban hingegen ist sich des Spielraums sehr bewusst, in dem er mit antisemitischen Klischees operieren kann. Er weiß aber auch, dass es keine Gewalt geben darf, weil dann wahrscheinlich sogar irgendwann die Geduld von Herrn Söder und von Frau Merkel an ein Ende kommen würde.
Zurück zu vermeintlichen Automatismen und vor allem der angeblichen „Welle“. Ein Punkt, auf den Sie im Buch verweisen lautet: Historisch ist kaum je eine autoritäre Regierung ohne die Hilfe etablierter konservativer Kräfte an die Macht gekommen. Wie schätzen Sie die gegenwärtige Gefahr in dieser Hinsicht ein?
Das ist für mich eine der wenigen offensichtlichen Erkenntnisse der vergangenen Jahre, obgleich wir es hier sicher nicht einem ehernen Gesetz zu tun haben: Mit der möglichen Ausnahme Italiens gilt: Bisher ist in Nordamerika oder Westeuropa kein Rechtspopulist ohne die Unterstützung etablierter konservativer Eliten an die Macht gekommen. Wer diese Tatsache ernst nimmt, sollte nicht nur immer wieder fragen „Wie können wir die Menschen erreichen, die Rechtspopulisten wählen?“, auch wenn das ein wichtiger Gesichtspunkt ist. Man sollte ebenso fragen: „Was denken eigentlich Eliten, wenn sie die Entscheidung treffen, sich mit solchen Kräften gemein zu machen?“. Kann man einen gewissen Druck auf sie ausüben und fragen, ob sie sich der Gefährlichkeit ihrer Aktionen bewusst sind?
Womit wir bei der Kritik an Eliten wären, die früher vor allem ein Unterfangen von links war, heute allerdings auch immer öfter und mit zunehmend scharfem Ton auch von rechts kommt. Was unterscheidet denn Ihrer Meinung nach produktiver von destruktiver Kritik an Eliten?
Prinzipiell ist nichts falsch oder gefährlich daran, ein wachsames Auge auf die Mächtigen zu haben. Im Gegenteil: Eigentlich ist es genau das, was uns die politische Bildung als Ideal aufgibt. Allerdings ist das besondere bei den Populisten ja nicht, dass sie die Mächtigen kritisieren, sondern dass sie den Anspruch stellen, sie als einzige verträten das vermeintlich „wahre Volk“. Interessanterweise stiften sie auch häufig ein Gemeinschaftsgefühl dadurch, dass sie behaupten, sie und ihre Anhänger seien alle Opfer. Das muss nicht zwangsläufig ins Verschwörungstheoretische abgleiten, kann es aber häufig.
Dabei ist auffällig, dass nicht nur klar konservative Figuren zunehmend diesen Weg einschlagen, sondern auch Personen, die man eher in der liberalen Mitte verorten würde. Man denke nur an die Wahl vom FDP-Mann Thomas Kemmerich zum thüringischen Kurzzeit-Ministerpräsident durch die Stimmen der AfD. Wie erklären Sie sich das?
Mir macht die Selbstpositionierung mancher selbst deklarierter Liberaler – seien es Intellektuelle oder Politiker – Sorgen. Man meint, sich schon dadurch als liberal zu beweisen, dass man sich irgendwie in der Mitte zwischen zwei vermeintlichen Extremen verortet. Konkret: Es dürfen nicht nur immer die Rechtspopulisten kritisiert werden, sondern auch nach links muss man mal richtig austeilen, nach dem Motto: Trump ist schlimm, aber die Cancel Culture auf dem Campus ist ja auch ganz schlimm. Damit meinen einige schon performativ bewiesen zu haben, dass sie wirklich liberal und gemäßigt sind. Wobei Kritisieren nach allen Seiten bzw. Streitsuchen mit jedem natürlich nicht verboten ist; es ist aber eine Frage der politischen Maßstäbe und der Urteilskraft, ob man gewisse Herausforderungen an Liberalismus gleichsetzen soll oder nicht.
Wobei eine demokratische Gesellschaft ohne Reibung auch nicht auskommt, oder?
Das ist richtig und hat wesentlich mit jener Ungewissheit zu tun, die auch im Titel meines Buches vorkommt. Demokratie ist ohne Ungewissheit nicht denkbar, denn wenn man immer schon alle politischen Ergebnisse vorher weiß, bzw. ein Machtwechsel de facto ausgeschlossen ist, lebt man bekanntlich nicht in einer Demokratie. In Deutschland sind wir allerdings nicht die Besten, wenn es um den Umgang mit Ungewissheit geht. In der Gesamtschau würde ich auf den Zustand westlicher Demokratien hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch blicken.
Wo liegt der Unterschied?
Beim Optimismus kommt es auf Wahrscheinlichkeiten an, wohingegen es bei der Hoffnung erst einmal um die Frage geht, ob es überhaupt gangbare Wege gibt. Und zwar unabhängig davon, wie wahrscheinlich es ist, dass diese auch tatsächlich beschritten werden. Wichtig ist nur, dass Möglichkeiten gegeben sind. Alles andere liegt an uns, denn schließlich beruht Demokratie nicht auf Vertrauen in Einzelne oder Institutionen, sondern auf der Bereitschaft etwas zu tun.
Wie sieht diese Bereitschaft aktuell aus?
Obwohl sehr viele Menschen weltweit unzufrieden mit ihren Demokratien sind, wenden sie sich nicht von demokratischen Grundideen ab. Besonders junge Menschen, die oft entweder im Verdacht stehen unpolitisch zu sein oder einen Hang zum Autoritären zu haben, halten der Demokratie die Treue und stehen vielerorts für sie ein – wollen aber auch wirklich an Entscheidungen beteiligt und nicht mit einen politischen Partizipationstheater abgespeist werden. Die Situation unterscheidet sich damit auch grundlegend von jener in der Weimarer Republik. Damals nämlich waren viele Menschen der Ansicht, dass Institutionen wie Parlamente an sich problematisch seien und neigten deshalb undemokratischen Systeme als klar definierter Alternative zu.
Und doch ist kaum von der Hand zu weisen, dass auch heute viele Menschen Parteien wählen, die die Demokratie de facto untergraben.
Das ist richtig, aber auch hier würde ich auf einen Hoffnungsschimmer verweisen. Zum einen gibt es derzeit im Westen kaum Politiker, die die Demokratie ganz offen angreifen, weil sie sich bewusst sind, dass eine solch öffentliche Ablehnung nur bei sehr wenigen verfangen würde. Das macht Regime wie in Ungarn und Polen zwar nicht direkt verwundbar, eröffnet aber auch mehr Spielraum für politische Gegenwehr. •
Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Princeton. Mit seiner Studie „Was ist Populismus?“ (Suhrkamp) legte er 2016 ein international viel beachtetes Werk zum Thema vor. Jüngst erschien von ihm „Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Wie schafft man Demokratie“ bei Suhrkamp.
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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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