Das Ende der Stellvertretung und die direkte Zukunft der Demokratie
Die repräsentative Demokratie lässt das Projekt der Aufklärung unvollendet. Statt selbst über unsere undelegierbaren Angelegenheiten zu entscheiden, setzen andere für uns Zwecke. Ein Plädoyer für den Ausbruch aus der institutionalisierten Unmündigkeit und mehr direkte Demokratie von Andreas Urs Sommer.
Bevor die Welt sich von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine in Bann schlagen ließ und alle längerfristigen, atembedürftigen Überlegungen erstickten, war allenthalben von der „Krise der Repräsentation“ die Rede. Offensichtlich, weil es Jetztzeitmenschen schwerfällt, sich „repräsentiert“ zu fühlen. Ist das womöglich gar keine furchtbare Krise, sondern Zeichen wachsender Mündigkeit? Soll niemand mehr für uns sprechen – weil wir das selbst können?
Der beständige innere Dissonanzdruck unterschiedlichster Meinungen, zu dem noch ein äußerer, globaler Anpassungsdruck hinzukommt – etwa erzeugt durch ökonomische Wachstumserwartungen, ökologisch-klimatische Umbrüche oder Migrationsbewegungen – , setzen Demokratien ständiger Veränderungserwartung aus. Sie kann darauf mit Ausschlussreflexen reagieren: Man schottet sich von allem ab, was gerade nicht in den eigenen Kram passt und hält beharrlich an den heiligen, weil hergebrachten Institutionen fest. Oder aber, und das ist langfristig die erfolgversprechendere Überlebensstrategie: Die Demokratie reagiert mit steter Selbstrevisions- und Selbstveränderungsbereitschaft – sie ist, partizipatorisch verstanden unausgesetzt praktizierte Selbstrelativierungskraft. Das macht sie so bedrohlich für Autokratien russischen oder chinesischen Zuschnitts. Gerade dieser sanfte Zwang, in Bewegung zu bleiben, widerspricht der Idee, dass es so etwas wie feste Repräsentation geben müsste – einmal gewählte, über lange Jahre ausschließlich und an Stelle aller handelnde, berufspolitische Akteure, die bis zur nächsten Wahl alle anderen von politischer Verantwortung entbinden.
Das Politische ist nicht delegierbar
Längerfristig feste und exklusive Repräsentation ist in ihrer bürokratisch-prozeduralen Starre der steten Veränderungsdynamik der Jetztzeit nicht angemessen. Auch als politisch handelnde Wesen müssen wir jederzeit in Bewegung bleiben. Denn politisches Handeln gehört nicht zu denjenigen Geschäften, die der Arbeitsteilung unterliegen sollten. Das Politische ist im Prinzip nicht delegierbar, weil es im Politischen um die Bedingungen der Möglichkeit des eigenen sozialen Seins geht.
Man wird entgegenhalten, so lange jemand zwischen all den privaten Möglichkeiten wählen kann, die ihm die moderne Möglichkeitskultur gewährt, müsse man diesem Jemand nicht auch noch aufbürden, politisch zu partizipieren. Doch, man muss, erwidere ich, damit dieser Jemand sich selbst und allen anderen die Möglichkeit sichert, zwischen all seinen privaten Möglichkeiten zu wählen. Die politische Teilhabe ist keine Teilhabe unter anderen; über politische Möglichkeiten zu verfügen, ist keine Möglichkeit unter anderen. Vielmehr ist politische Partizipation eine Metapartizipation, eine Wahl höherer Ordnung: Um überhaupt wählen zu können zwischen Möglichkeiten, muss der Rahmen dafür gesetzt sein. Und gerade darin, diesen Rahmen zu bestimmen, besteht das Politische. Daran mitzuwirken, können wir als uns ermündigende Wesen unmöglich anderen überlassen.
Der herkömmliche parlamentarische Repräsentativismus verlangt von seinen Bürgerinnen, einmal in ein paar Jahren eine Entscheidung von höchster Tragweite zu fällen – nämlich, wer sie repräsentieren soll. Eine Entscheidung, deren Folgen die Bürger eigentlich nicht abschätzen können, denn ihre Repräsentantinnen haben ein freies Mandat und sind nicht an den Willen der Wähler gebunden. Nimmt man hingegen die Überlegung ernst, dass es an uns allen ist, über die Bedingungen der Möglichkeit unseres sozialen Seins zu befinden, wird man nicht umhinkönnen, die eine vermeintliche Großentscheidung über die jeweiligen Repräsentanten durch viele kleinere Sachentscheidungen zu ersetzen oder diese Sachentscheidungen der Wahl von Repräsentanten als zeitweilige Delegierte mit mittlerer Entscheidungsbefugnis an die Seite zu stellen.
Denn den politischen Raum gestaltet man nicht ein für alle Mal, sondern immer wieder neu, mit immer neuen Sachentscheidungen, wobei die Reichweite der einzelnen Sachentscheidung geringer ist als eine parteipolitische Richtungsentscheidung für Jahre und Jahrzehnte, deren Konsequenzen die einzelnen Wähler kaum abschätzen können, selbst dann nicht, wenn sie das Programm ihrer Präferenzpartei sehr genau kennen. Einzelne Sachentscheidungen zu treffen ist dem beschränkten Horizont auch von sich ermündigenden Wesen viel angemessener als eine parteipolitische Richtungsentscheidung mit ganz unsicheren Sachentscheidungsfolgen. Um es formelhaft zu verkürzen: Repräsentation heißt: Einige haben eine Stimme für andere. Demokratie heißt: Jeder hat eine Stimme für sich. Partizipation heißt: Jeder hat eine Stimme für sich – und für alle anderen.
Unentrinnbare Freiheit
Sehr schön, wird die kritische Leserin einwenden, was der Herr Philosoph den Menschen so alles zutraue. Aber gibt es denn irgendwelche Anhaltspunkte, dass die Menschen auf Augenhöhe mit der ihnen seit Jahrhunderten zugemuteten Aufklärung gelangt sind? Dass sie tatsächlich in der Lage sind, ihre Lage zu erkennen und zu verändern? Haben uns denn nicht Kapitalismus und Mediokratie systematisch untergebuttert, werden wir denn nicht von der Babywiege und von Kindsbeinen an digital und televisionär systematisch verblödet, um am Ende nur noch als willfährige Konsumentenzombies vor uns hinzuvegetieren? Gieren denn vermeintlich Erwachsene nicht nach den Verlockungen der Unreife und wollten den Nanny-Staat, der uns in Plüsch und Pampers packen solle?
Ja – antworte ich – , gewiss, die Infantilisierung ist da – und doch ist sie nur ein Symptom: das Symptom für eine Entwicklungstendenz der jetztzeittypischen Möglichkeitskultur. Viele ihrer Akteure – und Akteure sind wir alle – tun sich mit dem Agieren schwer, weil sie sich von der Fülle der Möglichkeiten überfordert fühlen. Infantilisierung ist eine Reaktion darauf, dass zu viel möglich ist, und man vor lauter Möglichkeiten weder ein noch aus weiß, so dass man aus Entscheidungsnot vorsorglich einmal alles gutheißt, aber sich beleidigt gibt, wenn einem eine Möglichkeit verweigert wird, und dann zu greinen anfängt – so wie der letzte amerikanische Präsident bei seinem vom Wahlvolk erzwungenen Abgang.
Zwingend ist es keineswegs, vor der Möglichkeitsfülle zu kapitulieren und in die Puppenstube der Bevormundungsgesellschaft zurückzukrebsen. Denn im Symptom tun sich bereits die therapeutischen Perspektiven auf: Gewiss ist die Möglichkeitsfülle eine Zumutung, die uns womöglich ins nächste Schneckenhaus treibt. Aber ihr Zumutungscharakter liegt mehr darin, zu fordern als in Schneckenhäuser zu treiben: Die Möglichkeitsfülle fordert von uns, aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszutreten. Die medialen Infantilisierungsangebote sind nichts weiter als verlockende Mischungen aus Süßigkeit und Schlafmohn, denen wir nur allzu gerne nachgeben, weil wir uns der Forderung, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, nicht recht gewachsen fühlen: Wäre doch nett, wenn unsere Stellvertreterinnen das für uns täten. Infantilisierungsmedienrauschen ist nicht die Ursache dafür, dass wir alle politisch untätig werden und verblöden, sondern vielmehr die Reaktion auf eine Überforderung, die mit der Freistellung des Menschen einhergeht: Keine Religion, keine Ideologie bindet uns mehr und weist uns einen sicheren Platz zu. Ins Leere gestellt, ist uns jeder Strohhalm recht, und sei es auch Fernsehen oder Internet. (Die Menschen bekommen die Medien, die sie verdienen.) Aber irgendwann ist der Bildschirm aus und wir sind offline: Auf Dauer können wir unserer Freistellung nicht entkommen.
Der Staat in der Begründungspflicht
Partizipatorisch-direktdemokratische Politik dürfte die nächstliegende Antwort auf Infantilisierung, auf Möglichkeitsverschleppung, auf Entscheidungsunlust sein. Denn partizipatorisch-direktdemokratische Politik zwingt zu Entscheidungen, und zwar alle – selbst die, die nicht entscheiden wollen, womit sie schon entscheiden. Sie zwingt mich dazu, mich als soziale Persönlichkeit zu formen. Und damit als eine Persönlichkeit, die zwischen Möglichkeiten wählt. Partizipatorisch-direktdemokratische Politik ist eine Schule des Willens. Sie ist Charakterbildung und unterbindet Regressionen ins Kindische.
Früher einmal bauten alle festeren sozialen Institutionen ihre Autorität nicht auf Gründe, sondern auf den „Glauben der gebundenen Geister an sie“, wie Nietzsche es in Menschliches, Allzumenschliches ausdrückte. Der Staat ruhte einst auf dem Glauben, dass er eine Existenzberechtigung an sich habe, dass er an sich gut, richtig und dem Menschen angemessen sei, nicht nur im Prinzip, sondern gerade so, wie er sich konkret darstellt. Diese Staatsglaubensgewissheit ist nach und nach verdunstet, und zwar unter dem Druck einer Modernisierung, die Aufklärung war und ist. Aufklärung heißt, nach Gründen zu verlangen. Wir sind uns als Gründe fordernde Wesen zu Bewusstsein gekommen. Und wir begnügen uns nicht mehr mit einem einzigen, feststehenden, unhinterfragbaren Grund (etwa der göttlichen Offenbarung), sondern wollen eine Vielzahl von Gründen hören und prüfen. Wir wollen einen Staat, der nicht auf blindem Glauben beruht, sondern sich unentwegt uns gegenüber für sein Sein und sein Tun rechtfertigt.
Unter dem Druck von Modernisierung als Aufklärung erweisen sich die Menschen allerdings nicht nur als Gründe fordernde, sondern auch als Zwecke setzende Wesen. Aufklärung heißt, selbst Zwecke setzen zu können. Das Problem ist, dass im noch vorherrschenden politischen Repräsentativismus andere für uns Zwecke setzen. Das zeigt, dass das Projekt der Aufklärung unvollendet ist. Aufklärung heißt, selbst Zwecke setzen zu müssen – und dies bedeutet wesentlich, sich selbst politisch zu verorten. Gerade, wenn die Gegenwart eine haltlose ist, die weltanschaulichen und religiösen Bindungen weggebrochen sind, gibt es eine Nötigung, sich selbst zu positionieren. Und das geschieht nicht nur im Kleinen und Privaten, sondern auch im Großen und Ganzen, auf dem Marktplatz des Gemeinwesens. Das partizipatorisch-direktdemokratische Gemeinwesen wäre eines, das nicht nur ein Universum der Zwecke, sondern auch ein Universum der Gründe zulässt – und alle seine Bürgerinnen und Bürger dazu nötigt, aus ihren ganz persönlichen Gründen und Zwecken heraus, die Bedingungen der Möglichkeit des gemeinsamen sozialen Seins durch Entscheidungen mitzugestalten.
Nach alledem hätten Berufspolitikerinnen ausgedient als Stabilisatoren des blinden Glaubens an einen Staat, der sich weder rechtfertigen noch auf die individuellen Zwecksetzungen seiner Bürger Rücksicht nehmen muss. Einem Staat als mystischen Selbstzweck vertraut heutzutage niemand mehr, erst recht nicht Berufspolitikern, die sich einem solchen Staatsideal verschreiben. Wozu dann noch Berufspolitiker?
Politiker als Ermündigungshelfer
Vorauszuschicken ist einer knappen Antwort auf diese Frage die Feststellung, dass das Berufspolitiker-Problem keines der Personalrekrutierung ist. Diese Rekrutierung krankt in Europa und Nordamerika nicht daran, dass die wirklich guten Leute „in die Wirtschaft“ abwandern und nur noch die in Geist und Willen minderbemittelte Belegschaft übrig bleibt, die für einen ehrlichen Beruf nicht in Frage kommen und die daher die Option Berufspolitik wählen. Sicher kann man als CEO eines Weltkonzerns, ja auch schon – wie einst ein SPD-Kanzlerkandidat beklagt hat – als Vorstandsvorsitzende einer mittelgroßen Sparkasse erheblich mehr verdienen als Spitzenpolitikerinnen es tun, solange sie im Amt sind. Aber das Pekuniäre ist nur ein Aspekt persönlichen Wohlbefindens: Macht- und Geltungsbedürfnis lassen sich nach wie vor im politischen Raum trefflich ausleben. Das Personal, das sich fürs Berufspolitische zur Verfügung stellt, entspricht vermutlich in seinen Geistes- und Willensgaben ganz dem Bevölkerungsdurchschnitt (und wäre damit zumindest „repräsentativ“). Auszuschließen ist jedenfalls, dass es eine Verschwörung, einen allgemeinen bösen Willen der Berufspolitiker gibt – eine das „gesunde Volksempfinden“ unterdrückende politische Klasse.
Das Problem der Berufspolitikerinnen ist eben kein personelles, sondern ein systemisches. Das System des parlamentarischen Repräsentativismus wird der Mündigkeit der Menschen nicht mehr gerecht. Und auf diese Mündigkeit von uns allen dürfen wir, durch den Parlamentarismus lange Jahrzehnte geschult, zählen. Jetzt sind wir reif, selbst entscheiden zu können; wir benötigen keine Repräsentanten als Sprechverstärker. Historisch hat der parlamentarische Repräsentativismus als Schule der Mündigkeit sehr wohl seine Berechtigung gehabt. Aber in seiner bisherigen Form ist er obsolet.
Wozu also dann noch Berufspolitiker? Ihre zentrale Aufgabe lautet jetzt: Sie sollen Ermündigungshelfer sein. Sie sollen uns mit Rat zur Seite stehen, wenn wir Bedingungen der Möglichkeit des sozialen Seins durch Entscheidungen gemeinsam gestalten. Und nur ganz nebenbei sollen sie auch noch Entscheidungen geringerer und mittlerer Reichweite für uns treffen, wenn wir sie konkret und punktuell damit beauftragen. Parlamente wären dann beispielsweise als Volksabstimmungsvorbereitungsanstalten dringend gefragt. Die Zeit der Berufspolitikerinnen als Entmündigungsagenten ist – Putin hin oder her – vorbei. Weil wir alle den politischen Raum gemeinsam gestalten müssen. •
Andreas Urs Sommer ist Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Am 15. August 2022 erscheint sein Buch „Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert. Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört“ im Herder Verlag.