Schafft sich die Demokratie selbst ab, Herr Manow?
Die Demokratie ist attraktiv wie nie und trotzdem bedroht. Das liegt, so der Politikwissenschaftler Philip Manow, an ihrer Entpolitisierung, die seit Jahren voranschreitet. Ein Gespräch über das liberale Unbehagen an der Wahl und Populismus als Symptom.
Herr Manow, ist die Demokratie in Gefahr?
Als Idee sicher nicht. Demokratie erscheint weiterhin als konkurrenzlos attraktive Herrschaftsform. Bestes Zeichen: Menschen sind bereit, für sie zu sterben, ob das Alexei Nawalny oder ukrainische Soldaten sind, oder sie nehmen schwerste Repressionen in Kauf, wie etwa die Demokratiebewegung in Hongkong. Das schafft kein anderes politisches Modell. Autokratien wie Putins Russland besitzen keine normative Attraktivität. Menschen müssen mit viel Gewalt und Unterdrückung in sie hineingezwungen werden. Grundsätzliche Alternativen zur Demokratie waren im 20. Jahrhundert Faschismus und Kommunismus. Die eine Alternative ist 1945 untergegangen, die andere 1989. Seither ist die Demokratie ohne Konkurrenz.
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Philip Manow: „Die Frage ist, ob die Signale richtig verstanden werden“
Die Bundestagswahl markiert einen deutlichen Rechtsruck, doch Politikwissenschaftler Philip Manow sieht in der AfD weniger die Ursache als vielmehr ein Symptom demokratischer Defizite. Die künftige Regierung steht nun vor drei zentralen Herausforderungen: Migration, wirtschaftliche Stabilität und die Krise der Repräsentation.

Judith Butler und die Gender-Frage
Nichts scheint natürlicher als die Aufteilung der Menschen in zwei Geschlechter. Es gibt Männer und es gibt Frauen, wie sich, so die gängige Auffassung, an biologischen Merkmalen, aber auch an geschlechtsspezifischen Eigenschaften unschwer erkennen lässt. Diese vermeintliche Gewissheit wird durch Judith Butlers poststrukturalistische Geschlechtertheorie fundamental erschüttert. Nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern auch das biologische Geschlecht (sex) ist für Butler ein Effekt von Machtdiskursen. Die Fortpf lanzungsorgane zur „natürlichen“ Grundlage der Geschlechterdifferenz zu erklären, sei immer schon Teil der „heterosexuellen Matrix“, so die amerikanische Philosophin in ihrem grundlegenden Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“, das in den USA vor 25 Jahren erstmals veröffentlicht wurde. Seine visionäre Kraft scheint sich gerade heute zu bewahrheiten. So hat der Bundesrat kürzlich einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der eine vollständige rechtliche Gleichstellung verheirateter homosexueller Paare vorsieht. Eine Entscheidung des Bundestags wird mit Spannung erwartet. Welche Rolle also wird die Biologie zukünftig noch spielen? Oder hat, wer so fragt, die Pointe Butlers schon missverstanden?
Camille Froidevaux-Metteries Essay hilft, Judith Butlers schwer zugängliches Werk zu verstehen. In ihm schlägt Butler nichts Geringeres vor als eine neue Weise, das Subjekt zu denken. Im Vorwort zum Beiheft beleuchtet Jeanne Burgart Goutal die Missverständnisse, die Butlers berühmte Abhandlung „Das Unbehagen der Geschlechter“ hervorgerufen hat.
Der Kampf um das „Volk“ – Populismus und die Krise der Demokratie
Der Begriff Populismus hat in politischen Debatten Konjunktur – aber was genau ist damit gemeint? Nicole Deitelhoff, Wolfgang Thierse und Thea Dorn über Gefahren und Potenziale eines umstrittenen Konzepts.

Das Unbehagen in der Theorie
Die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft ist nicht durch Krisen überfordert, sondern durch sich selbst, erklärt der Soziologe Armin Nassehi in seinem Buch Unbehagen. Eine Rezension von Thorsten Jantschek.

Philipp Lepenies: „Die Realität der frühen Demokratie hieß überall: Exklusion”
Wer die Demokratie verteidigen möchte, sollte einen Blick in ihre Geschichte werfen, meint Philipp Lepenies. Im Gespräch zu seinem neuen Buch Souveräne Entscheidungen. Vom Werden und Vergehen der Demokratie geht der Politikwissenschaftler den demokratischen Ursprüngen in Frankreich, England und den USA nach. Und erklärt, warum tugendhafte Bürger entscheidend sind.

Zwischen Krise und Erneuerung – Die liberale Demokratie am Scheideweg
Nach dem Ende des Kalten Krieges schien die liberale Demokratie siegreich, doch heute wird sie von innen und außen bedroht: durch Rechtspopulismus, Islamismus, Russland und China. Um zu überleben, muss sie sich erneuern, ihre Widersprüche auflösen und sozial gerechter werden – sonst droht ihr Ende. Ein Essay von Christoph David Piorkowski.

Israels aktueller Populismus
In ihrem jüngst erschienen Buch geht Eva Illouz den titelgebenden Undemokratischen Emotionen nach und stellt besonders die Angst als Gefährdung für ihr Heimatland Israel heraus. Eine Rezension von Josef Früchtl.

„Die Rechte hat gelernt, den Populismus zu nutzen und liebt ihn“
Lateinamerika ist Sehnsuchtsort, Politlabor und philosophisches Terrain, das sich stets ein wenig im Schatten seiner nördlichen Nachbarn befindet. Zu Unrecht, wie wir in unserer Reihe über den Subkontinent zeigen wollen. Im Interview spricht die Politikwissenschaftlerin María Esperanza Casullo über den Aufstieg Javier Mileis zum Präsidenten Argentiniens und darüber, was Lateinamerika uns über nostalgische und futuristische, linke und rechte Populismen lehrt.

Kommentare
Demokratie leidet an einer Identitätskrise. Im nicht-akademischen Diskurs muss "demokratisch" und "undemokratisch" für allerlei Zwecke dienen, oft ohne jeden Bezug zum Kernwesen der Demokratie. Dazu die Distanz zwischen Regierten und Regierenden. Eine Kluft, die sich - fälschlicherweise - bis auf kommunale Strukturen zurückschlägt. "Die da oben" sind dann plötzlich auf die Nachbarn mit Sitz im Stadtrat. Eine schädliche Entwicklung, die sich in Wahlbeteiligungen wiederfindet.
Der Kommentar, sicher jedoch die Gesinnung die Herr Manow von sich gibt, dass weniger Recht zugunsten mehr Politik die demokratische Gesellschaft voran bringt, lässt mich vermuten, ich kenne Herr Manow nicht, dass er eher in der gesellschaftlichen Mehrheit eingebunden ist und seine Privilegien nicht adäqaut zu reflektieren bereit ist. Wie, wenn nicht mit gesetzlichen und gerichtlichen Rechtsansprüchen, können z.B. Menschen mit Behinderung gegen Behinderungen der Mehrheitsgesellschaft angehen? Die Demokratie, die sich Herr Manow zusammenschustert, ist leider durch die libertär-kapitalistische Elite korrumpiert bzw. toxisch.
Es gibt wohl tausend Wege, die Demokratie vermeintlich zu stärken.
Politisierung und Verrechtlichung können meiner Beobachtung nach beide dazu führen, erstere, wenn gute demokratische Politik Kontrolle über rechtliche Probleme übernimmt und letztere, wenn gute demokratische Rechtssetzung Kontrolle über politische Probleme abgibt. Beide stärken dann die Demokratie. Eine Diktatur kann beides auch leisten.
Dysfunktionale Diktatur wird durch Demokratie ersetzt und dysfunktionale Demokratie wird durch Diktatur ersetzt.
Eine goldenere Mitte zwischen Einparteienstaat und Vielparteiensystem scheint mir das Zweiparteiensystem.
Ich danke für den Artikel und die Möglichkeit, zu kommentieren.