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Bild: IMAGO / Italy Photo Press

„Die Rechte hat gelernt, den Populismus zu nutzen und liebt ihn“

María Esperanza Casullo, im Interview mit Jana C. Glaese veröffentlicht am 18 Juli 2024 14 min

Lateinamerika ist Sehnsuchtsort, Politlabor und philosophisches Terrain, das sich stets ein wenig im Schatten seiner nördlichen Nachbarn befindet. Zu Unrecht, wie wir in unserer Reihe über den Subkontinent zeigen wollen. Im Interview spricht die Politikwissenschaftlerin María Esperanza Casullo über den Aufstieg Javier Mileis zum Präsidenten Argentiniens und darüber, was Lateinamerika uns über nostalgische und futuristische, linke und rechte Populismen lehrt.

 

Philosophie Magazin: Auf den ersten Blick mag der Erfolg von Javier Milei überraschend erscheinen: Bereits während des Wahlkampfes kündigte er an, den Staat abbauen zu wollen, und in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft setzte er mehrere dieser Versprechen um: Streichung von öffentlichen Arbeitsplätzen, Aussetzung von Subventionen, Abwertung des Peso. Wie erklären Sie sich seinen Erfolg in einem Land, in dem mehr als fünfzig Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben?

María Esperanza Casullo: Um den Erfolg von Milei zu erklären, müssen wir zunächst berücksichtigen, dass die Gesellschaft von den vorherigen Regierungen sehr enttäuscht war. Argentinien befindet sich seit mindestens acht Jahren in einer schlechten wirtschaftlichen Lage. Die Regierung von Mauricio Macri, die 2015 ihr Amt antrat und eher technokratisch und traditionell rechts war, wurde in wirtschaftlicher Hinsicht als Misserfolg wahrgenommen. Die darauffolgende Regierung von Alberto Fernández war eine Rückkehr zum Peronismus und damit zu einer eher linken Politik. Aber auch sie galt als wirtschaftlich gescheitert. So sagten viele Argentinier: Gut, Option A habe ich schon versucht, funktioniert nicht, Option B habe ich schon versucht, funktioniert nicht. Ich muss etwas radikal Neues ausprobieren. Nach diesen acht Jahren, in denen man sich in der Sackgasse und Krise fühlte, und nach vier Jahren der Regierung Fernández, der als sehr schwach und unentschlossen wahrgenommen wurde, schätzt die argentinische Gesellschaft einen Präsidenten, der Entscheidungen trifft. Im Sinne von: Mir ist es lieber, er trifft extreme Entscheidungen oder sogar falsche Entscheidungen als gar keine Entscheidungen. Lasst uns irgendwo hingehen. Los geht's. Auf geht's, und dann werden wir in ein paar Monaten sehen, wo wir hinkommen.

Eine Sache, die in den letzten Jahren weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat, ist die starke feministische Bewegung in Argentinien, die für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und gegen Femizide und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Land auf die Straße gegangen ist. Ich vermute, dass diese Menschen nicht für Milei gestimmt haben. Wer sieht ihn als vielversprechende Figur?

Die Wählerschaft von Milei ist eine ziemlich heterogene Koalition, was bei dieser Art von populistischen Anführern immer der Fall ist: Aufgrund ihrer Ausdrucksweise gelingt es ihnen, eine heterogene Koalition von Gruppen zusammenzustellen, die nie gedacht hätten, dass sie für denselben Kandidaten stimmen würden. Meiner Meinung nach lassen sich drei Gruppen unterscheiden. Die Kernwählerschaft und der emotionale Angelpunkt des Mileismus sind eindeutig junge Männer, die sehr verärgert über die feministischen Fortschritte des letzten Jahrzehnts sind. Sie waren die ersten, die sich Milei anschlossen, sie kamen zu dieser Figur, nachdem sie ihn im Fernsehen gesehen hatten – Milei war Talkshow-Gast in mehreren Fernsehsendungen –, aber auch und vor allem, nachdem sie das konsumierten, was Milei seit mehreren Jahren in Youtube-Videos, auf Instagram, auf Twitter produziert. Auch außerhalb Argentiniens, in Mittelamerika und in anderen Ländern, war Milei als Medienfigur bei diesem Typus junger Männer bekannt. Diese Gruppe ist ziemlich klassenübergreifend. Ihr gehören die Männer an, die über die Fortschritte des Feminismus verärgert sind und die es natürlich auch in anderen Teilen der Welt gibt. Diese Kerngruppe ist wichtig, weil sie Loyalität und Weiterverbreitung von allem erzeugt, was Milei veröffentlicht.

Wer sind die beiden anderen Gruppen?

Es gibt eine Wählerschaft in einer anderen Altersgruppe, die über die wirtschaftliche Situation sehr verärgert ist und sich von Mileis Wirtschaftsdiskurs angesprochen fühlte, der den Zugang zu Dollars versprach, der zusicherte, die Inflation unter Kontrolle zu bringen und die Arbeiter- und Mittelschicht auf ein Konsumniveau zu bringen, das in Argentinien seit einigen Jahren eingeschränkt war. Eine dritte Gruppe sind die, die wir als die traditionelleren Rechten in Argentinien bezeichnen könnten: Wähler der höheren Schichten, Wähler über 60 Jahre, die im ersten Wahlgang nicht für Milei gestimmt haben, die aber, nachdem sie sahen, dass er im zweiten Wahlgang von rechtskonservativen, eher traditionellen und den Wirtschaftseliten nahestehenden Politikern wie Mauricio Macri und Patricia Bullrich unterstützt wurde, sagten: Gut, vielleicht hat Milei nicht die Eigenschaften, die ich mag, aber ich vertraue Mauricio Macri, ich vertraue Patricia Bullrich, und sie sagen mir, dass er nichts Verrücktes anstellen wird, und deshalb werde ich ihn unterstützen.

Im Gegensatz zur neoliberalen Agenda von Mauricio Macri, dem argentinischen Präsidenten von 2015 bis 2019, sagt Javier Milei, er wolle den Staat abschaffen. Was ist seine wirtschaftliche Vision?

Ich sehe in Mileis Wirtschaftspolitik Kontinuitäten mit dem neoliberalsten rechten Flügel in Argentinien. Dabei handelt es sich nicht um die eher korporatistisch-nationalistische Rechte, die es bis in die 1960er Jahre gab, sondern um eine wirklich neoliberale Wende – hin zu einer Ausrichtung auf die Vereinigten Staaten und zur Öffnung und radikalen Deregulierung der Wirtschaft. Dieser Diskurs begann mit José Martínez de Hoz, Wirtschaftsminister von 1976 bis 1981, während der Militärdiktatur, und setzte sich mit Domingo Cavallo, Wirtschaftsminister zu Beginn der 1990er Jahre, fort. Die Regierung von Mauricio Macri versuchte eindeutig, viele dieser Ziele voranzubringen – Öffnung der Wirtschaft, einige Privatisierungen –, aber sie hatte einen eher klassischen Modernisierungsdiskurs, im Sinne von: wir müssen den Staat modernisieren, wir müssen ihn reduzieren, aber vor allem müssen wir den Staat effizienter machen. Milei wirft etwas ganz anderes auf: Er fordert nicht, dass der Staat effizienter gemacht werden muss, dass er geprüft oder reformiert werden muss. Diesen Diskurs finden wir überhaupt nicht. Milei sagt: Den Staat sollte es nicht geben. Punkt.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Man kann es im Diskurs der nationalen Universitäten sehen: Als Mauricio Macri an die Macht kam, sagte er, dass die öffentliche Universität verdächtig ist, dass sie zu viel ausgibt, und er führte ein Programm von Audits, also Überprüfungen, durch. Milei tut das nicht, er sagt an keiner Stelle: Gut, wir werden sie prüfen, wir werden Experten schicken, wir werden herausfinden, wie viel Personal sie haben, wir werden herausfinden, wie viel sie ausgeben. Er sagt direkt: Ihr seid ein Nest der kommunistischen und feministischen Indoktrination und es wäre besser, wenn es euch nicht gäbe. Ich denke, das ist neu. Nicht so sehr in der Ausrichtung, aber in der Ausweitung des staatsfeindlichen Diskurses.

Man könnte also sagen, dass es vorher einen Neoliberalismus gab, der auch technokratisch war, und dass er jetzt, mit Milei, diesen Aspekt ablegt?

Ganz genau. Es gibt keinen technokratischen Diskurs. Und deshalb ist die Regierung Mileis eindeutig als rechtsradikaler Populismus zu bezeichnen. Der technokratische Diskurs sagt: Vertraut mir, ich weiß, was ich tue, ich bin Experte, ich habe Fachwissen, das mir erlaubt, mit der Realität umzugehen. Der populistische Diskurs basiert auf einem moralischen Antagonismus: Es ist ein Diskurs, der die Technokratie desavouiert und sie durch einen moralisierenden Antagonismus ersetzt. Seine Grundlage ist nicht, ich bin Experte, sondern: Ich werde mit meiner außergewöhnlichen Kraft und gemeinsam mit euch gegen die Feinde kämpfen, die euch schaden.

Was bedeutet das in wirtschaftlicher Hinsicht? In den 1970er Jahren kam der Neoliberalismus mit Margaret Thatcher und Ronald Reagan auf, in den letzten Jahren geriet er in die Krise, aber jetzt kommt Javier Milei und setzt ihn auf viel radikalere Weise um. Ist das ein Anachronismus, eine letzte Episode des Neoliberalismus, oder wird eine neue Phase eingeleitet?

Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Milei ist ein Extremfall, aber er ist nicht der einzige. Wenn man sich die Rechten ansieht, die in der Welt auf dem Vormarsch sind – Donald Trump, ein Großteil der radikalen Rechten in Europa –, dann stellt man fest, dass sich der neoliberale Wirtschaftsdiskurs in gewisser Weise erschöpft. Paradoxerweise hat keiner der Anführer der radikalen Rechten ein in wirtschaftlicher Hinsicht besonders hoffnungsvolles Versprechen zu bieten. Carlos Menem, der argentinische Präsident in den 1990er Jahren, sagte noch: Nun, es wird schmerzhaft sein, aber wenn wir den Staat verkleinern, wenn wir all diese Reformen durchführen, werden wir eine Zukunft in Wohlstand erreichen. Praktisch niemand auf der Rechten verspricht das heute. An die Stelle dieses Vakuums treten viel moralischere Bedingungen für die Wirtschaft: Es ist nicht gut, Geld auszugeben – nicht, weil wir eine wohlhabendere Gesellschaft erreichen, wenn wir es nicht ausgeben. Sondern vielmehr: Es ist nicht richtig, Geld auszugeben, weil wir die Mittel nicht den Schmarotzern – denen, die es nicht verdienen, den Einwanderern, den Faulen – geben sollten. Es ist wie eine letzte Etappe, eine Etappe, die eine Erschöpfung markiert, aber es ist auch wahr, dass sie im Moment wahltaktisch wirksam zu sein scheint.

Aber es gibt ein wirtschaftliches Versprechen auf persönlicher Ebene, nicht wahr? An anderer Stelle sprachen Sie von Mileis „Wohlstandsevangelium“, einem fast religiösen Versprechen Geld zu verdienen, das er seinen Anhängern gibt.

Ja, das ist richtig. Es konzentriert sich nicht auf die Makroökonomie, sondern auf die Mikroökonomie, d.h. auf die eigene wirtschaftliche Situation, die in eine Sphäre eines religiös-calvinistischen Diskurses verwandelt wird. Aber die Idee ist nicht: Wenn wir die Gesellschaft in Ordnung bringen, werden wir alle Zugang zum Wohlstand haben. Sie lautet: Wenn du dich moralisch angemessen verhältst, wirst du mit persönlichem Wohlstand belohnt. Die Aufgabe des Staates besteht also nicht mehr darin, die sozialen Bedingungen zu schaffen, damit wir alle wohlhabend sein können, sondern die moralischen Bedingungen zu schaffen, damit diejenigen, die es verdienen, wohlhabend sein können. Für mich ist der Aufstieg dieser Art von Rechten untrennbar mit dem Aufkommen von Bitcoin und dem Aufkommen von Youtube-Videos von angeblichen Finanzhändlern verbunden, die einem „beibringen“, wie man an der Börse mitspielt. Diese Gruppe junger Menschen, die ich als Kern des Mileismus bezeichnet habe, ist sehr stark in all das involviert, sie wollen Trader sein, sie wollen Bitcoins verkaufen, sie konsumieren einen vulgarisierten Wirtschaftsdiskurs über Youtube-Videos und Instagram, sie setzen auf diese Art von Hoffnung, individuellem Wohlstand, der fast religiös oder magisch ist. Bis vor ein paar Monaten war auf Mileis Instagram-Profil – als er bereits Präsident von Argentinien war – eine Werbung für Trading-Kurse zu sehen. Er bewarb Trading-Kurse. Und es gibt viele Videos, in denen Milei Personen präsentierte oder unterstützte, die Bitcoins verkaufen.

Ein weiterer Aspekt, der an der Figur Milei auffällt, ist seine ziemlich aggressive Art der Kommunikation: das Schwingen einer Kettensäge bei Wahlkampfveranstaltungen, die Beleidigung von Kongressmitgliedern. Ist diese Art der Kommunikation etwas, das für einige populistische Figuren spezifisch ist, oder stellt sie ein allgemeineres Merkmal dar?

Für mich ist sie einer der Schlüssel zum aktuellen Populismus und sie ist das, was praktisch alle populistischen Führer verbindet – vor allem die männlichen, obwohl wir sie auch bei einigen weiblichen Populisten finden. Sie trifft auch auf Donald Trump zu, auf Jair Bolsonaro, Nayib Bukele, Boris Johnson, Santiago Abascal in Spanien, José Antonio Kast in Chile. Es ist eine Performance der Aggression, bei der der Schwerpunkt auf der Vermittlung von Männlichkeit liegt. Es sind Anführer, die versuchen, eine Art Hypermaskulinisierung zu vermitteln, aber eine Männlichkeit, die speziell als Aggression gegenüber Frauen, LGBT-Gruppen und gefährdeten Gruppen verstanden wird, zum Beispiel in Brasilien gegenüber der indigenen Bevölkerung oder in den Vereinigten Staaten gegenüber der Migrantenbevölkerung mexikanischer Herkunft oder muslimischen Glaubens. Und dies wird auf der Ebene des Körpers vermittelt, durch die Art und Weise, wie es gesagt wird, und nicht auf der Ebene dessen, was gesagt wird. Von Milei – wie auch von Trump und Bolsonaro – kursieren Videos, die mit künstlicher Intelligenz gemacht wurden und sie als hypermuskulös und sehr jung zeigen, ganz anders als diese Menschen im wirklichen Leben sind. Dies ermöglicht es vielen ihrer Anhänger, auf emotionaler und körperlicher Ebene eine Verbindung herzustellen und eine Hierarchie festzulegen – mehr als über ein Regierungsprogramm.

Was genau wird auf emotionaler Ebene vermittelt?

Was Milei oder Trump anbieten, ist nicht unbedingt eine Abkehr von der Abtreibung – obwohl sie das vielleicht tun – oder die Durchsetzung einer bestimmten Agenda. Was sie damit sagen wollen, ist: Es ist in Ordnung, aggressiv gegen Leute zu sein, die einen nerven, man kann seine innere Aggression ausleben. Das ist in Ordnung, es ist legitim, und wir werden die Voraussetzungen dafür schaffen, dass ihr eure eigene Gewalt ausüben könnt. Das ist nicht unbedingt der klassische Diskurs der harten Hand, mit dem wir in Lateinamerika sehr vertraut sind, in dem Sinne, dass wir die Polizei einsetzen, um diejenigen zu unterdrücken, die wir nicht mögen. Nein, hier ist es anders, nach dem Motto: Du da, wende deine Gewalt an, entfessle deine eigene Gewalt. Das scheint mir der Schlüssel zu sein, nicht etwas Unwichtiges oder Oberflächliches, im Gegenteil, in diesem Gewaltdiskurs steckt der Kern der Verbindung zu bestimmten Sektoren.

Was ist mit linkspopulistischen Figuren wie Manuel López Obrador in Mexiko oder Maduro in Venezuela?

Alle Populismen bedienen sich einer Art von Performance, bei der man im Grunde antagonistisch ist, bei der man mit jemandem kämpft. Das ist das Gegenteil des technokratischen Auftritts. Der Technokrat sagt dem Wähler: Vertraut mir, denn ich verfüge über ein spezielles Wissen, das mich zur besten Person macht, um mit dieser Krisensituation umzugehen. Der Populist sagt zu seinen Wählern: Vertraut mir, denn ich weiß, gegen wen man kämpfen muss. Lasst uns gemeinsam gegen diese Person oder diese Gruppe von Menschen kämpfen, die euch schaden wollen. Die Vorstellung des Kampfes ist der Schlüssel zum linken und rechten Populismus. Mir scheint jedoch, dass der Unterschied darin besteht, gegen wen man kämpft. Manuel López Obrador hat auch einen antagonistischen Diskurs, aber es ist eine Sache, nach oben zu kämpfen, und eine andere, nach unten zu kämpfen: Es ist eine Sache, mit den sozioökonomisch mächtigsten Sektoren zu kämpfen – sagen wir den Bankern oder den wohlhabenderen Klassen – und eine andere, unten mit Sektoren zu kämpfen, die eigentlich benachteiligte Sektoren sind, wie etwa den Migranten. Und es gibt auch mehr oder weniger aggressive Formen. Eine Sache ist zu sagen: Diese Gruppe hat zu viel wirtschaftliche Macht, wir werden sie mehr besteuern. Eine andere, wie Milei es tut, Troll-Kampagnen mit sehr persönlichen Beleidigungen zu erzeugen.

Lange Zeit schien der Populismus in Lateinamerika hauptsächlich ein linkes Phänomen zu sein. Dreht sich der Wind nun? Erleben wir gerade den Aufstieg des Rechtspopulismus auf dem Kontinent?

Ja, das stimmt. In Europa denken Politikwissenschaftlerinnen, wenn sie von Populismus sprechen, in der Regel an Rechtspopulismus, während Lateinamerikanisten, wenn sie von Populismus sprechen, historisch gesehen an Linkspopulismus denken – Perón in Argentinien, Vargas in Brasilien usw. 100 Jahre lang standen die populistischen Ressourcen eher der Linken zur Verfügung: Es gab einen Linkspopulismus, der sich an die Spitze stellte, der stärker staatsorientiert war, der auf eine stärkere Regulierung der Wirtschaft drängte und der verteilungsorientiert war, d. h. der Geld an die Armen und die Mittelschicht verteilte. Die Rechte hingegen war sehr anti-populistisch. Sie wollten ein politisches System, in dem es keine Massenbeteiligung oder -mobilisierung gab. Aber jetzt, nach 40 Jahren Demokratie und angesichts der Krise der traditionellen technokratischen Rechten, gibt es einen sehr beschleunigten Lernprozess unter rechten Populisten. Die Rechte hat gelernt, den Populismus zu nutzen und liebt ihn. Das gilt auch für die Wirtschaftselite: Milei kommt auch deshalb an die Macht, weil es ihm gelingt, praktisch die gesamte wirtschaftliche Besitzerklasse Argentiniens hinter sich zu scharen. Das argentinische Big Business, das gesamte wirtschaftliche Establishment, hat ihn ganz entscheidend unterstützt. 100 Jahre lang war die Wirtschaftselite des Landes außerordentlich antipopulistisch, aber jetzt hatte sie kein Problem, Milei zu unterstützen. Und etwas Ähnliches ist in Brasilien mit Bolsonaro passiert und passiert wahrscheinlich auch in Chile.

Heißt das, dass sich die Populismen in Europa und Lateinamerika im Allgemeinen immer mehr ähneln?

Es gibt immer noch große Unterschiede. In Europa ist der Populismus im Allgemeinen viel stärker ausgrenzend. Es gibt Sektoren, die direkt sagen: Ihr könnt nicht zu unserer Koalition gehören – Einwanderer, islamische Bevölkerung –, während in Lateinamerika keiner der Rechtspopulismen, außer vielleicht im Fall von Chile, eine starke Anti-Immigrationskomponente hat. Das ist in Lateinamerika kein Thema. Es gibt auch einen Unterschied zwischen einem sehr nostalgischen und einem eher futuristischen Charakter. Der nostalgische Populismus sagt: Wir müssen unser Land wieder so aussehen lassen, wie es vor 100 Jahren war, wir wollen zu einer völlig idealisierten Vergangenheit zurückkehren. Der futuristische Populismus sagt: Wir müssen eine neue Ordnung aufbauen. Diese Unterschiede gibt es immer noch. Bukele hat zum Beispiel einen autoritären, aber sehr futuristischen Diskurs: Wir werden die Bitcoin-Stadt bauen, wir werden Bitcoin als Währung verwenden, wir werden 5.000 Wissenschaftlern aus dem Ausland die salvadorianische Staatsbürgerschaft anbieten, damit sie in unserem Land leben und arbeiten können. – Aber es stimmt auch, dass die Formen des Populismus sich in den letzten Jahren immer ähnlicher wurden, vor allem unter den Rechten

In welchem Sinne?

Wir leben in einer Ära der Hyperinformation, in der viele Inhalte in sozialen Netzwerken geteilt werden, und wir können eine gewisse Konvergenz auf der Ebene der Repertoires beobachten. Es gibt einen Prozess der Nachahmung, bei dem populistische Anführer sehen, was funktioniert, und sagen: Das muss ich auch machen. Ich kann das Gleiche tun. Also werde ich dies von Bukele kopieren: ich werde sagen, dass ich Gefängnisse bauen werde und das Strafmündigkeitsalter auf 13 Jahre heruntersetze, das ist es, was Milei sagt. Ich werde jenes von Milei kopieren: Ich werde mich mit einer Motorsäge in der Hand fotografieren lassen oder Youtube-Videos machen, in denen ich andere beleidige. Darüber hinaus gibt es unter den heutigen Rechten ein transnationales Netzwerk persönlicher Kontakte. Es sind Anführer, die befreundet sind, Anführer, die miteinander reden. Milei fährt nach Spanien, um für Santiago Abascal zu werben, Milei scheint jetzt mit Georgia Meloni in Italien befreundet zu sein, er hat Kontakte zum Trumpismus, Trump ist mit Bolsonaro befreundet, und so weiter.

Ist die Hypermaskulinität von Milei und Bolsonaro nicht auch ein nostalgischer Diskurs und in diesem Sinne eher mit Versionen des europäischen Populismus verwandt?

Es stimmt, dass der hypermaskuline Diskurs in der Nostalgie verankert ist. Er hat eine erfundene nostalgische Komponente, weil er eine Männlichkeit und eine Art der Unterwerfung von Frauen postuliert, die es in keiner Gesellschaft in Lateinamerika mehr gibt. Sie ist eher radikal als konservativ. Und Milei hat eine stärkere nostalgische Komponente als die anderen früheren Rechten in dem Sinne, dass wir ins 19. Jahrhundert zurückgehen müssen, zu einem „Früher“ – nicht nur vor dem Peronismus, sondern vor der Demokratie der Massen.

Können wir von der Figur Milei und Studien des Populismus in Lateinamerika etwas über das Phänomen im Allgemeinen lernen?

Was es in der Welt praktisch nicht mehr gibt, ist die technokratische Mitte-Rechte. Sie bewegen sich alle in Richtung Rechtspopulismus. Ich halte es aber auch für wichtig, sich nicht von diesen Figuren blenden zu lassen. Sie hatten zwar Wahlerfolge, aber bisher waren ihre Regierungen nicht so erfolgreich oder so einschneidend, wie man meinen könnte. Jair Bolsonaro hat die Wahl verloren, in Spanien sah es so aus, als würde Vox alles wegfegen, aber das hat es nicht. Labor hat die Konservativen in Großbritannien, die sich mit dem Brexit identifizieren, besiegt. In Frankreich wurde Le Pens Aufstieg an die Macht gerade gebremst. Milei hat mit mehr als 55 Prozent der Stimmen gewonnen, was sehr viel ist, und er hat klar gewonnen. Aber man darf nicht vergessen, dass es weitere 44 Prozent gibt, die ihn trotz dieser Wirtschaftskrise, trotz acht sehr schwieriger Jahre, nicht gewählt haben. Es ist eine politische Auseinandersetzung, die noch lange nicht abgeschlossen ist. •

María Esperanza Casullo ist Politikwissenschaftlerin und Professorin an der Universidad Nacional de Río Negro in Argentinien. Unter anderem von ihr erschienen sind: “Por Qué Funciona El Populismo?” (Siglo XXI Editores, 2019) und “El Populismo en América Central” (gemeinsam mit Harry Brown Araúz, Siglo XXI Editores, 2023).
 

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