Das Gedankenreich der Inka
Lateinamerika ist Sehnsuchtsort, Politlabor und philosophisches Terrain, das sich stets ein wenig im Schatten seiner nördlichen Nachbarn befindet. Zu Unrecht, wie wir in unserer Reihe über den Subkontinent zeigen wollen. In seinem Text begibt sich Alexandre Lacroix auf eine philosophische Spurensuche nach Peru.
Es bringt nicht viel, den Historiker oder den Amateurarchäologen zu spielen – an diesem Morgen ziehe ich es vor, direkt an den Steinen der Inkastadt von Ollantaytambo vorurteilsfrei Eindrücke zu sammeln. Diese alte Kultstätte liegt in Peru, 60 Kilometer von Cusco entfernt (siehe Karte S. 34), auf fast 3000 Metern Höhe, in jenem Tal, in dem der Fluss Urubamba fließt und das man in den Faltblättern der Reisebüros auch das „Heilige Tal der Inkas“ nennt. Ollantaytambo ist in eine Einkerbung des Berges gebaut; die Stadt erhebt sich in majestätischen Terrassen, die von Treppen gesäumt werden; ihre Wälle werden von polygonalen Blöcken gebildet. Vor allem diese Mauern sind es, die im ersten Moment die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Manche Blöcke sind gigantisch und wiegen mehrere Tonnen, doch sind sie perfekt aneinandergefügt. In die Zwischenräume passt nicht einmal eine Stecknadel. Es gibt weder Mörtel noch Zement; und sie haben sich nicht verrü ckt, haben der winterlichen Erosion ebenso widerstanden wie den Erdstößen, die die Kordilleren gelegentlich erschüttern. Ich habe nicht die geringste Vorstellung, wie die Inka diese Steine haben bearbeiten können – ihre Fertigstellung ist so akkurat, als wären sie abgeschliffen worden –, und ebenso wenig, wie sie sie bis zu den höchsten Punkten der Stadt haben transportieren können. Doch noch eine andere technische Meisterleistung versetzt in Staunen: Überall in Ollantaytambo, wie übrigens auch in einer anderen Stadt im Tal, in Pisac, fließt das Wasser durch Rinnen und Brunnen. Die von den Inka in den Fels gehauenen Aquädukte, Rückhaltebecken und Kanäle zum Transport des Wassers von den Quellen aus den umliegenden Bergen bis in die Stadt funktionieren immer noch. Kenntnisse dieser Art, die wir in Europa zur Zeit des Sonnenkönigs noch besaßen, haben wir inzwischen verloren: Wir verstehen es nicht mehr, für unsere Gärten und Plätze Brunnen anzulegen, die länger als ein Jahrzehnt in Betrieb bleiben. Wir sind dazu technisch nicht mehr in der Lage: Die Kupferrohre, die Schweißnähte, die Dichtungen, die wir verwenden, unsere elektrischen Installationen, sie sind dummerweise ganz einfach zu instabil. In Peru scheint das Bewässerungssystem, genau wie die Wälle, indes von einer tellurischen Robustheit und Dauerhaftigkeit zu sein.
Die Pyramide als Erkenntniswerkzeug
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