Absaufen? Nein danke!
Die Bewohner Mikronesiens sind von den Folgen des Klimawandels so betroffen wie kaum eine andere Region auf der Welt. Der Menschenrechtsanwalt und Schriftsteller Julian Aguon erläutert, mit welchen Mitteln sie sich gegen die ökologische Zerstörung ihrer Heimat wehren und weshalb es dafür nicht nur wissenschaftliche Fakten, sondern auch alte Geschichten braucht.
Ich weiß nichts über den nächtlichen Himmel. Larry Raigetal, ein Meisternavigator, der unter einem Baldachin aus Sternen Betelnüsse kaut, findet das bedauerlich, aber nicht überraschend. Er stammt aus Lamotrek, einer Insel, die zu den Outer Islands von Yap in den Föderierten Staaten von Mikronesien gehört. Wir treffen uns allerdings in einem Kanuhaus auf der benachbarten Insel Guam, auf der ich zu Hause bin. Während wir sprechen, benutzt Raigetal seine Hände, um den Horizont in einen Sternenkompass aus 32 Richtungspunkten zu teilen. Er kann auf jahrhundertealtes Wissen zurückgreifen, um mir die Kunst des Wegfindens zu erklären – eine Methode des Navigierens ohne Instrumente, das von seinem Volk über Tausende Jahre verwendet wurde, um zwischen den vielen Atollen und Inseln Mikronesiens hin- und herzureisen.
Zu meiner Überraschung ist der Kompass, den er gedanklich auf den Himmel überträgt, mehr als eine Karte von Sternen, die von Osten nach Westen quer über den Horizont aufsteigen und wieder sinken. Das Wegfinden ist eine Weise, einen detailliert ausgearbeiteten Korpus richtungsweisender Informationen zu organisieren, Informationen, die von zahllosen Navigatoren vor ihm gesammelt, im Gedächtnis verankert und durch Gesänge seinem Großvater, dann seinem Vater, dann ihm weitergegeben wurden. Es ist ein lebendiger Speicher für spektakulär genaue Einzelheiten über Meerengen, Driftströme, Riffs, Untiefen und andere Seezeichen – einschließlich lebender. Eine Grindwalschule. Ein Hai mit besonderen Zeichnungen. Ein Meeresvogel. Als Pazifikinsulaner wusste ich, dass das Kanuhaus lange ein Ort des Lernens gewesen ist, und ich war gekommen, um Raigetal darüber zu befragen, ob das Wegfinden durch den Klimawandel beeinträchtigt worden ist. Als Menschenrechtsanwalt, der am Schnittpunkt zwischen den Rechten Indigener und Umweltgerechtigkeit arbeitet, war ich auch gekommen, weil ich glaube, dass die Völker des Pazifiks zur Bewegung für weltweite Klimagerechtigkeit wichtige intellektuelle Beiträge einzubringen haben. Wir haben Einsichten, die nicht nur daraus hervorgegangen sind, dass wir im engen Einklang mit der Erde leben, sondern auch daraus, dass wir bereits so viel überlebt haben – die Verheerungen des industriellen Rohstoffabbaus, die Experimente der Atommächte.
Schließlich war ich auch gekommen, weil meine persönlichen und professionellen Reserven erschöpft waren. Wie so viele andere, die im Klimabereich arbeiten, hatte ich seit August, als der Weltklimarat (IPCC) Teile seines sechsten Sachstandsberichts veröffentlichte, ein Gefühl überwältigender Niedergeschlagenheit empfunden. Diesen Bericht zu lesen, fühlte sich an, wie unter einer Lawine aus Fakten lebendig begraben zu werden, und ich suchte mühsam nach einem Weg, mich da herauszukämpfen.
Als es um mich und Raigetal immer dunkler wurde, wurde mir zweierlei klar. Erstens muss die Bewegung für Klimagerechtigkeit aufmerksamer jenen zuhören, die gegenüber den Verheerungen des Klimawandels am verwundbarsten sind, wie beispielsweise den Gesellschaften an der Küstenfrontlinie Ozeaniens. Zweitens brauchen wir, die wir bereits halbwegs in dieser Bewegung involviert sind, mehr als Fakten, um erfolgreich zu sein. Wir brauchen Geschichten. Nicht nur über das, was auf dem Spiel steht, sondern auch Geschichten über die Orte, die wir Heimat nennen.
In meinem Heimatfleckchen, Mikronesien, sind die Tatsachen beängstigend. Wir erleben einen zwei- bis dreimal höheren Anstieg des Meeresspiegels als im weltweiten Durchschnitt. Einige Wissenschaftler prognostizieren, dass die meisten unserer niedrig liegenden Nationen aus Korallenatollen bereits um 2030 unbewohnbar sein könnten. Konfrontiert mit der Aussicht auf klimabedingte Umsiedlung eines Teils ihrer Bevölkerung, wenn nicht der ganzen, haben einige Staatschefs darüber nachgedacht, in anderen Ländern Land zu kaufen.
Einer von ihnen hat bereits einen solchen Handel abgeschlossen. 2014 traf der damalige Präsident von Kiribati, Anote Tong, mit der Anglikanischen Kirche eine Vereinbarung über den Erwerb von mehr als 5000 Acres (ca. 2000 Hektar) Land auf Fidschi, wofür er annähernd neun Millionen US-Dollar zahlte. (Kiribati hat seitdem begonnen, dieses Land für Ackerbau und Viehzucht zu nutzen.) Obwohl das Geschäft von manchen als visionär angesehen wurde, war es für andere das Zeichen für eine Art Tod. Wird eine Vereinbarung, die die Umsiedlung der gesamten Bevölkerung einer Nation – jetzt ungefähr 121 000 Personen – vorhat, nicht ab einem gewissen Punkt mehr zu einem Totenschein als zu einem Vertrag? Auf Fidschi führt die Regierung ihre eigene Art von Todesliste – eine offizielle Aufzeichnung aller Dörfer, die wegen des Anstiegs des Meeresspiegels möglicherweise umgesiedelt werden müssen. Unter Verwendung interner Einschätzungen zur Klimaanfälligkeit hat die Regierung von Fidschi entschieden, welche ihrer Küstendörfer durch Küstenerosion, Fluten und Salzwassereintrag am stärksten betroffen sein würden. 2017 standen 42 Dörfer auf der Liste. Falls sie einmal gezwungen sein werden umzuziehen, werden sie dann jedenfalls nicht die ersten sein: Bereits 2014 fand für Vunidogoloa die formelle Umsiedlung auf höheres Gelände statt, ungefähr zwei Kilometer landeinwärts.
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