Der Mythos unterbewusster Manipulation
Eine US-Biermarke versuchte jüngst, Menschen im Schlaf zu beeinflussen, wogegen Wissenschaftler nun mit einem offenen Brief protestieren. Doch verrät der Fall mehr über die Sehnsucht von uns Konsumenten als über die Macht der Manipulation.
Die Schilder sind da, aber kaum jemand kümmert sich um sie. Wer sie sieht, hält sie für Antennen der Flugsicherung oder eine andere technische Notwendigkeit. In Wirklichkeit sind es Werbetafeln: Elektrische Mechanismen lassen die Botschaft „KAUFT ZIGARETTEN“ stets nur so kurz erscheinen, dass sie das Unterbewusstsein erreicht, aber nicht bewusst wahrgenommen wird. Der Arzt Robert Franklin wird darauf nur durch seinen unangepassten und leicht derangierten Bekannten Hathaway aufmerksam – und stellt später fest, dass er Zigaretten kauft, obwohl im Handschuhfach seines Autos noch drei ganze Stangen liegen.
Das ist eine Episode aus J.G. Ballards Science-Fiction-Geschichte The Subliminal Man von 1963. Die unsichtbare Werbung, die unbemerkt die Kontrolle übernimmt, ist dort die letzte Eskalationsstufe in einer dystopischen Konsumgesellschaft, in der sich rechtschaffene Bürger alle drei, besser zwei, Monate ein neues Auto kaufen. Dabei ist bemerkenswert, dass Ballard nirgendwo genau erklärt, wie die Bewusstseinsmanipulation durch die elektrischen Werbeschilder funktioniert. Doch das muss er auch gar nicht. Das Wort „Subliminal“ im Titel und die Anspielungen auf Schriftzüge, die nur sehr kurz sichtbar sind, reichten seinerzeit schon aus – denn dass Verhaltenssteuerung durch bewusst nicht wahrnehmbare Werbung mittels sehr kurzer Einblendungen von Schriftzügen zum Beispiel im Fernsehprogramm funktionierte und auch angewendet wurde, war damals sozusagen ein popkultureller Allgemeinplatz.
Freudianisches Marketing?
Das wiederum lag an Vance Packards The Hidden Persuaders (Die geheimen Verführer, 1957). Das journalistische Sachbuch über die damals neue Disziplin der Werbepsychologie wird mit nichts so sehr assoziiert wie mit solcher unbewussten Manipulation. Dabei wird diese nur sehr kurz besprochen (unterschwellige Einblendungen, die angeblich Kinozuschauer motivieren sollten, mehr Geld für Snacks und Getränke auszugeben), und der zitierte Wissenschaftler ist sich selbst nicht so sicher, ob das Ganze funktioniert hat. Bei Packard geht es eigentlich eher um tiefenpsychologische Techniken, zum Beispiel ein angeblich auf infantile Bedürfnisse zielendes, geradezu freudianisches Marketing von Milch und oral stimulierenden Produkten wie Zigaretten und Kaugummi.
Obwohl es seit weit über einem halben Jahrhundert nicht gelungen ist, nachzuweisen, dass unterschwellige Werbung wirklich funktioniert, hält sich die Idee hartnäckig in der Popkultur, als plakativste Ausprägung der Überzeugung, dass Manipulationstechniken uns dem Willen von Werbern unterwerfen. Daher war es auch kein Wunder, dass sich die Werbewirtschaft sie sich in einer Art ironischem Twist selbst zu eigen gemacht hat. Vor dem diesjährigen Superbowl-Finale im Februar bot die Brauerei Coors Interessierten an, ihr Unterbewusstsein für Bierwerbung zu öffnen.
Postmoderne Pointe
Man sollte ein spezielles Video vor dem Einschlafen anschauen und die Nacht über einen dazu passenden Hintergrund-Soundtrack hören, um von Bergen, erfrischenden Bächen oder im Idealfall gleich von Coors Light zu träumen. Allein die vage Hypothese, solche Inhalte könnten über Smart Speakers irgendwann auch einmal unfreiwillig eingespielt werden und so unsere Träume der Werbung unterwerfen, hat wiederum jüngst zu einem offenen Brief von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geführt, der gegen Traumtechnologie in der Werbung plädiert.
Sich freiwillig Bewusstseinsmanipulation durch Werbung zu unterwerfen, weil es irgendwie „cool“ ist, obwohl es vermutlich kaum funktionieren wird und lediglich Verbraucher betrifft, die sich bereits mit der beworbenen Biermarke identifizieren, ist nun sicher eine ungeheuer postmoderne Pointe. Die Befürchtungen unfreiwilliger Manipulationen und der offene Brief aber zeigen, genauso wie seit jeher das Thema „unterschwellige Werbung“ als Popkultur-Phänomen, vielleicht sogar eine Art Entlastungsstrategie. Denn vielleicht ist die Vorstellung, dass wir den Konsum, von dem wir uns so gerne habituell distanzieren, wirklich wollen, uns einfach noch unheimlicher als die Vorstellung, dass unsere Gehirne längst aus Berliner Agenturlofts heraus ferngesteuert würden. •
Zum Weiterlesen:
The Subliminal Man ist als Der unterbewußte Mann bzw. Der unterbewusste Mensch auch in einer (leider schlechten) deutschen Übersetzung erschienen, zuletzt im Sammelband Die Stimmen der Zeit (Heyne 2007). Die erzählerische Konsequenz von J.G. Ballards dystopischem Weltentwurf macht aus der Story eine bis heute beklemmende Lektüre, vor allem aber ein geschichtliches Dokument zu den Ängsten der westlichen Wachstumsperiode zwischen Zweitem Weltkrieg und Ölkrise. Vance Packards Monster-Bestseller-Trilogie (nach The Hidden Persuaders noch The Status Seekers (1959) über das Streben nach gesellschaftlichem Status und The Waste Makers (1960) über Überproduktion von Konsumgütern) und die darin thematisierten Befürchtungen sind in Ballards Erzählung so präsent, dass man letztere geradezu als eine literarische Verarbeitung von Packards Büchern lesen möchte.
In Ballards dystopischer Welt muss man sich zwingen, ab und zu „Gesundheitsnahrung“ zu essen, weil „normales“ Essen besser schmeckt, aber lediglich aus gefärbter Gelatine besteht und keinen Nährwert besitzt; nach dem 14-Stunden-Tag wird die Sieben-Tage-Woche eingeführt, um das Wirtschaftswachstum halten zu können; zur Steigerung der Massenproduktion gibt es von allen Produkten nur noch eine Marke; soziale Distinktion erfolgt nur noch durch quantitatives Geldausgeben, erkennbar an den aktuellen Rabattsätzen, die Supermärkte mit Neonschildern anzeigen, und die in Vierteln junger Aufsteiger am höchsten sind; Autobahnen führen zwischen Halden nagelneuer weggeworfener Haushaltsgeräte hindurch. Für den Blick auf unsere Gegenwart ist an Ballard und Packard nicht zuletzt interessant, was an ihren Befürchtungen nicht eingetreten ist. So sind Autos heute nicht nur erheblich haltbarer als in den 60ern, sondern werden im Mittel auch länger gefahren – und die deutsche Durchschnittswaschmaschine lebt mehr als zehn Jahre und hält ihre 1600 Ladungen in der Dauerprüfung der Stiftung Warentest aus wie eh und je.