Der Wille zur Weisheit
Über 50 Jahre war Erwin Huber in den höchsten Ämtern der CSU tätig. Schaffte es von ganz unten nach ganz oben und fiel tief. Jetzt studiert der 72-Jährige Philosophie und stellt sich mit Martin Heidegger die Sinnfrage.
Auf den Dächern der Einfamilienhäuser flimmert die Hitze eines Rekordsommers. In der Ferne brummt die übermotorisierte Jugend dem Wochenende entgegen. Ansonsten ist an diesem Tag alles ruhig im ersten Stock des CSU-Abgeordnetenbüros in Landau. Bis im Treppenhaus Schritte zu hören sind und im Flur eine gedrungene Gestalt erscheint, die zielstrebig näher kommt. Erwin Huber. Der Mann, der die bayerische Politik über Jahrzehnte maßgeblich prägte und der sich 2018 nach über 50 Jahren in den höchsten Ämtern der CSU aus dem aktiven Betrieb zurückzog. Der heute 73-Jährige, aus dessen Gesicht eine verschmitzte Herausforderung blitzt, hat noch immer den Händedruck eines Spitzenpolitikers. Etwas zu fest und mit Zug zum eigenen Rumpf. Eine alte Gewohnheit? Macht er auch am Beginn dieses Gesprächs einen Führungsanspruch deutlich, in dem es nicht um Macht, sondern um die Liebe zur Weisheit gehen soll? Denn Erwin Huber ist jetzt Student. Eingeschrieben im zweiten Semester an der Hochschule für Philosophie in München.
„Fragen rund um unsere Existenz als Dasein haben mich schon immer interessiert“, so Huber, die Hände fest auf seine Beine gestemmt wie ein Sportler vor einem wichtigen Match. Und in der Tat verbindet sich mit dem Wort „Dasein“ ein überaus ehrgeiziges Vorhaben – ist es doch unauflöslich mit dem Namen Martin Heidegger verknüpft, dessen Hauptwerk Sein und Zeit lesen und verstehen zu können Hubers erklärtes Fernziel ist. Für jemanden, der sein Leben bis dato mit Konjunkturanalysen anstatt mit ontologischen Fachbegriffen zugebracht hat, ist das wahrhaft eine Mammutaufgabe. Zumal Heideggers Diktion, gelinde gesagt, ohnehin höchst eigenwillig ist. Politiker verwenden Sprache als Machtinstrument. Für Heidegger ist sie Ausdruck des Denkens selbst. Und so gebraucht der Philosoph auch das Wort „Dasein“ höchst absichtsvoll, um anzuzeigen, dass es dem Menschen als einzigem Wesen „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“ und damit nur er die Frage nach dem „Sinn von Sein“ stellen kann.
Die Sinnfrage also. Für jemanden wie Huber muss sie sich unweigerlich auftun. Jetzt, nach seiner alles andere als bruchlosen Karriere. Hat er doch nahezu seine gesamte Existenz einer einzigen Sache verschrieben: der Politik. Aber hat es sich am Ende auch gelohnt? Oder ist das schon die falsche Frage?
Mit harten Bandagen und offenem Visier
Als Huber 1946 in einfachsten Verhältnissen zur Welt kam, deutete nichts darauf hin, dass er einmal zu einem der einflussreichsten Politiker des Freistaats werden würde. Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte das scheue Kind in der sogenannten Einöde, einem einzeln stehenden Hof in Bayern bei seiner alleinerziehenden Mutter, die sich und ihren Sohn mit Gelegenheitsarbeiten als Näherin und Landarbeiterin über Wasser hielt und ihn streng religiös erzog. Seinen Vater hat Huber nie kennengelernt. Wenn er erzählt, wie er morgens um 5 Uhr mit aufs Feld ging und nahezu keinen Kontakt zu Gleichaltrigen schmitztheit aus seinen Zügen. Der Stuhl mit der hohen Rückenlehne wirkt etwas größer. Oder Huber kleiner. Schwer zu sagen.
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