Heiner Hastedt: „Wer korrupt ist, bleibt unter den eigenen Möglichkeiten“
Aktuell wird mehreren Politikern von CDU und CSU vorgeworfen, ihr Mandat für persönliche Vorteile missbraucht zu haben. Im Interview erläutert der Philosoph Heiner Hastedt, warum ein zu positives Bild der menschlichen Natur Korruption befördert und wie wir sie mit Hegels Rechtsphilosophie bekämpfen können.
Herr Hastedt, in Ihrem Buch Macht der Korruption blicken Sie unter anderem mit Michel Foucault und Hegel auf das Thema. Was hat die Philosophie denn zu Gefälligkeitsgeschäften zu sagen?
Spannend an der philosophischen Betrachtung dieses Themas ist, dass wir Korruption im ersten Moment vermutlich alle als ethisch verwerflich ablehnen. Niemand will sich selbst als korrupt wahrnehmen. Korrupt, könnte man sagen, sind immer die anderen. Ich habe allerdings versucht eine philosophische, also eine möglichst unvoreingenommene Perspektive einzunehmen und mich in einer Spurensuche auch selbst zu fragen, wo ich korrumpierbar bin und wo ich den Drang verspüre, Macht zur Erlangung eines persönlichen Vorteils zu missbrauchen. Korruption als Missbrauch von Macht zum eigenen Vorteil ist eine recht breite, aber wie ich glaube sinnvolle Definition des Begriffs. Und will man einen unvoreingenommenen Blick auf sich selbst und ein Thema richten, kann die Philosophie helfen, indem sie uns Werkzeuge an die Hand gibt, mit denen man versuchen kann, auch das moralisch Verwerfliche zu analysieren.
Weil Sie die pauschale Verurteilung von Korruption ansprechen: Bedeutet das, dass es auch „gute“ Korruption gibt?
Nein, Korruption als solche kann nicht gut sein. Allerdings gibt es viele Grauzonen. Nehmen Sie das Beispiel Abraham Lincolns, der als Held des Humanismus gilt. Sieht man sich allerdings genauer an, wie es zur juristischen Abschaffung der Sklaverei kam, muss man stutzig werden. Denn für den dafür erforderlichen Beschluss im Repräsentantenhaus war eine Zweidrittelmehrheit nötig. Und wie haben Lincoln und seine Unterstützer diese schlussendlich errungen? Durch die ganz banale Bestechung von Abgeordneten!
Für Sie heiligt also kein Zweck die Mittel?
Nun ja, wie heldenhaft ist jemand, der für die Abschaffung der Sklaverei korrupte Praktiken nutzt? Meine Antwort wäre tatsächlich: Kein Zweck heiligt die Mittel. Die Praktik der Bestechung ist auch hier als moralisch verwerflich abzulehnen. Allerdings würde ich angesichts der nicht auflösbaren Pluralität von Werten auf die historische Ausnahmesituation hinweisen. So wird für mich die Heldenhaftigkeit Lincolns trotz der zu verurteilenden Bestechung nicht durchgängig getrübt.
Würden Sie eine solche Argumentation auch gelten lassen, wenn sie von Personen wie Nüßlein, Sauter und Löbel vorgebracht würden?
In keinem Fall. Nüßlein ist nicht Lincoln – überhaupt nicht.
Wer sich an die Amigo-Affäre oder Kohls Spendenaffäre erinnert, kann durchaus verwundert über das Ansehen sein, das Kohl oder auch Schäuble noch immer bei vielen Parteimitgliedern sowie Wählerinnen und Wählern genießen. Ist die Öffentlichkeit sensibler für Korruption geworden? Schließlich zeichnen sich die Konsequenzen für Löbel und Co bereits jetzt deutlich ab.
Diese Sichtweise teile ich mit Blick auf die letzten 20 Jahre nicht, denn Korruption passiert stets vornehmlich im Schatten der Öffentlichkeit. Was sich hingegen sicherlich verändert hat, ist das Maß an Empörung über derartige Enthüllungen sowie die Reaktionen derer, die der Korruption bezichtigt werden. Mittlerweile hat sich nämlich herumgesprochen, dass Vertuschungsstrategien dauerhaft nicht besonders gut funktionieren, sondern mitunter alles nur noch schlimmer machen. Deshalb will die CDU jetzt wohl alles auf den Tisch packen, um das Thema einer Vorteilsannahme ihrer Abgeordneten bis zur Bundestagswahl wieder los zu sein. Ich bin allerdings auch gespannt, was das von der Staatsanwaltschaft Mannheim eingeleitete Untersuchungsverfahren gegen Löbel am Ende bringen wird. Möglicherweise nicht allzu viel. Dennoch ist sein Ruf als Politiker aus moralischen Gründen zu Recht unwiederbringlich beschädigt.
Warum empören wir uns derartig über Korruption?
Im Grunde geht es dabei um eine Unterscheidung, die schon Max Weber in seiner Schrift Politik als Beruf im Hinblick auf die Motivation des politischen Personals anspricht: Leben die Abgeordneten für die Politik oder von der Politik? Ohne eigenes Engagement für die Politik wird die letztere Einstellung besonders in Kombination mit Nebentätigkeiten und Lobbyismus fatal. Im Hinblick auf die aktuellen Fälle scheint mir allerdings die Aserbaidschan-Affäre fast noch gravierender zu sein als die Masken-Affäre. Denn in letzterer bereichern sich Menschen an einem knappen Gut, was schlimm genug ist, haben sich aber immerhin damals an der international komplizierten Beschaffung von Masken beteiligt. Im ersten Fall allerdings wird im Sinne der Bestechlichkeit das Image eines Staates aufpoliert – gegen vergleichsweise kleine Summen übrigens –, der Menschenrechte massiv verletzt.
Nun hat der CDU-Bundesvorstand im Zuge der jüngsten Vorfälle einen Verhaltenskodex für Amts- und Mandatsträger beschlossen. Künftig sollen also Amtsinhaber und Kandidaten der CDU alle Nebentätigkeiten, Gewinnanteile, Aktienoptionen und Unternehmensbeteiligungen offenlegen. Sind solche Maßnahmen sinnvoll, um Machtmissbrauch in den Griff zu bekommen?
Ich halte das für eine sehr sinnvolle Maßnahme, ja. Denn Korruption wird durch Intransparenz und Fehlanreize begünstigt. Oder, wenn man es noch deutlicher sagen wollte, ist oft systemisch angelegt. Deshalb heißt mein Buch auch Macht der Korruption und nicht Macht der Korrupten. Ich lehne mich hier an eine Sichtweise Michel Foucaults an, der Macht nicht als Eigenschaft von Personen, sondern überindividuell denkt. In der Forschung spricht man an dieser Stelle von modaler Macht oder im Jargon Foucaults von Dispositiven. Menschen kommen vermutlich nicht als gänzlich Korrupte auf die Welt, sondern werden kulturell und gesellschaftlich an Korruption herangeführt.
Jeder Mensch hat also eine innere Veranlagung zur Korruption, die zum Vorschein treten kann oder eben nicht?
Ich bin hier ganz bei Kant, der den Menschen in seinen Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik als „krummes Holz“ beschrieben hat. Was er damit meinte war, dass die Idealisierung des Menschen als rein egoistisches Wesen genauso falsch ist wie die Beschreibung als rein altruistisches Geschöpf. Wir sind nun mal Mischwesen, die beide Qualitäten in sich tragen. Oder wie es Adam Smith in seiner Theorie der ethischen Gefühle beschrieben hat: Wir sind Gemeinschaftswesen, wobei das Ethische auch das ist, was im Hinblick auf die Gemeinschaft von Vorteil ist. Das Verfolgen von Einzel- und Gemeinschaftsinteressen geht also mitunter Hand in Hand. Nur auf Korruption bezogen bedeutet das eben auch, dass es eine Fokussierung auf die Menschen gibt, die uns nah sind.
Was wäre ein Beispiel für diese Fokussierung?
Die Arbeiten des Politikwissenschaftlers Edward C. Banfield lassen sich hier gut zur Illustration heranziehen. Banfield untersuchte Korruption in Süditalien und stellte fest, dass amoralische Familiaristen am anfälligsten für Korruption sind. Sie nämlich haben häufig den Eindruck, dass es in der Welt ohnehin übel zugeht, weshalb sie mit nahezu allen Mitteln dafür sorgen, dass es ihren Verwandten und ihnen selbst gut geht. Sie sehen: Das ist ein Korruptionseinstieg mit gutem Gewissen, denn wer seinen Lieben hilft, tut nichts Böses. Und ich kenne niemanden, der oder die diesen Impuls zum Schutz des Nahbereichs zurecht von sich weisen könnte. Sicher ist jedenfalls: Wer erfolgreich gegen Korruption vorgehen will, sollte allzu optimistische Menschenbilder tunlichst vermeiden.
Ein zu positives Bild des Menschen trägt also nicht zur effektiven Bekämpfung von Korruption bei. Wie allerdings sollte man dann vorgehen?
Hegel benennt in seiner Rechtsphilosophie drei Perspektiven, die mir in der Korruptionsbekämpfung im Besonderen und im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse insgesamt sinnvoll erscheinen. Er spricht von Moralität, Rechtsstaatlichkeit und Sittlichkeit. Der erste Schritt wäre also die moralische Empörung, die hilfreich ist, wenn Aufmerksamkeit auf einen Missstand gelenkt werden soll. Anschließend benötigt man Rechtsstaatlichkeit, insofern man das Moment der Veränderung regelorientiert auf Dauer stellen will.
Wie sähe dieses Element der Rechtsstaatlichkeit im Hinblick auf die Korruptionsbekämpfung aus?
Wenn Institutionen ein Exempel an großen Fällen statuieren, um ein Zeichen zu setzen, würde ich an dieser Stelle von der Erfüllung dieses Prinzips sprechen. Wenn also die „großen Fische“ erfolgreich angeklagt werden, macht das bei den kleineren Eindruck, und der Anreiz, sich illegaler Mittel zu bedienen, verringert sich. Und als dritter Punkt ist die Sittlichkeit zentral, die zwar dem Wort nach etwas altmodisch klingt, sich aber ganz praktisch auf die Veränderung der täglichen Gewohnheiten in einer Zivilgesellschaft beziehen lässt.
Würden Sie das an einem konkreten Beispiel erläutern?
Korruption gibt es natürlich auch im Hinblick auf die Besetzung von Stellen. Hier wird Vitamin B oft Vitamin K, wenn Menschen Leute aus dem eigenen Umfeld rekrutieren. Und das ist auch für die Effizienz von Teams keine gute Idee, weil jegliche Diversität fehlt. Wir verkehren meist mit Menschen, die ungefähr so gebildet, ungefähr so wohlhabend sind und ungefähr unsere politischen Ansichten teilen. Wer also nur aus dem eigenen Umfeld rekrutiert und sich dadurch im Extremfall der Korruption schuldig macht, beweihräuchert die eigenen als Maßstab genommenen Fähigkeiten, und schirmt sich so von neuen Eindrücken ab.
Das bedeutet also, der korrupte Mensch bleibt hinter den eigenen Fähigkeiten als lernfähiges Wesen zurück?
Auf die Gefahr hin, dass das nun sehr nach Politikersprech klingt, würde ich tatsächlich sagen: Wer korrupt ist, bleibt unter den eigenen Möglichkeiten. Und zwar auch, weil Korruption die vorhandenen Chancen auf ein gutes Leben aller minimiert. Aktuell sehen wir allerdings an Bewegungen wie den „Querdenkern“ auch, dass die Parole „die da oben sind alle korrupt“ in ihrer Maßlosigkeit die Demokratie untergräbt. Wer Korruption kritisiert, und das ist, wie wir sehen, dringend notwendig, muss darauf achten, dass dabei nicht auch andere Werte unter die Räder kommen. •
Heiner Hastedt ist Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Universität Rostock. Zuletzt erschien von ihm „Macht der Korruption. Eine philosophische Spurensuche“ im Meiner Verlag.
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