Dirk Oschmann: „Was mit Freiheit zu gewinnen wäre, bleibt unklar“
Das Versprechen der Freiheit ist ein zentraler Baustein der Moderne. In Kafkas Romanen zeigt sie dagegen ihre Schattenseite, erklärt Dirk Oschmann. Ein Gespräch über das Vertrautsein mit der Welt, Amerika als Strafkolonie und Kafkas „Stufen der Scheinbarkeit“.
Herr Oschmann, Sie bezeichnen Kafkas Romane als „Tiefenbohrungen in die spezifische Verfasstheit der Moderne“. Was wird dabei zutage gefördert?
Wenn man Vormoderne und Moderne schematisch unterscheiden möchte, könnte man sagen, dass der Mensch in der Zeit vor 1750 durch die ständische Gesellschaft seinen Platz in der Welt kannte. Diese Sicherheit geht in der Moderne, die sich den Leitbegriff der Freiheit auf die Fahnen geschrieben hat, verloren. Jetzt muss der Einzelne zunehmend selbst den Platz finden und besetzen, an den er in der Gesellschaft gehört. Damit erzeugt die Freiheit einen unglaublichen Orientierungsdruck, dem jeder Einzelne bei Kafka ausgesetzt ist und der für die Moderne insgesamt und bis heute charakteristisch ist.
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