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Bild: Anadolu Agency (Imago)

Kommentar

Gaza und kein Ende – Tragödie eines moralischen Zusammenbruchs

Josef Früchtl veröffentlicht am 12 August 2025 8 min

Die Nachrichten und Bilder, die aus Gaza in die Welt gelangen, zeugen nicht nur von dem unfassbaren Leid der Palästinenser. Sie offenbaren auch die selbstzerstörerischen Kräfte Israels, die politische Farce des Westens und die drohende Abstumpfung derer, die die Bilder betrachten, meint Josef Früchtl.

Wie lange müssen wir das alles noch ertragen? Tagtäglich werfen wir einen Blick in die Zeitung, online oder althergebracht auf Papier, folgen abends aus Gewohnheit der Nachrichtensendung im Fernsehen, schalten unsere Smartphones und Laptops an und klicken uns durch die Nachrichten, Links, Bilder und Kommentare. Die Hetzersprüche klicken wir überdrüssig weg. Wir gehören zu den Wohlstandsprivilegierten, die aus lauter Selbstverständlichkeit stets wieder vergessen, wie privilegiert wir sind. Wir mussten keinen Krieg miterleben, keinen Hunger leiden, das Leben („life is what just happens“) hat uns meist auch vor Unfällen und großem Unglück verschont. Wir sind die Bürgerinnen und Bürger einer Welt, die sich gerne „zivilisiert“ und in Europa und anderswo aus Tradition „christlich“ nennt.

Wie lange müssen wir noch ertragen, was Tag für Tag in unsere Köpfe und Körper eindringt wie eine giftige Substanz in kleinen Dosen? Die Bilder abgemagerter, halb verhungerter Kinder, ihre Körper nicht mehr als dünne Haut, die auf einem Gerippe klebt – wir kennen sie aus Hungersnöten auf dieser Erde, die sich manchmal wie Epidemien aneinanderreihen. Aber in Gaza – und damit haben wir es zurzeit so heftig zu tun – geht es nicht um eine Naturkatastrophe, sondern um eine von Menschen verbrochene, mit tödlicher Absicht herbeigeführte Katastrophe. 

Die Kinder sind die Schwächsten. Im aktuellen Überlebenskrieg haben sie die geringsten Chancen. Wie muss man sich fühlen, wenn einen der Hunger so sehr plagt, dass man nicht schlafen kann? Oder wenn man aus Hunger zu schwach ist, um weiterzuarbeiten? Bei Ärztinnen und Ärzten, die in Gaza ihre Arbeit tun, bei Journalistinnen und Journalisten, die von dort berichten, ist das zurzeit der Fall. Da ausländischen Journalisten die Einreise nach Gaza verboten ist, können nur palästinensische Kolleginnen weiter berichten. So kann man es in verschiedenen internationalen Zeitungen lesen. Hilfsorganisationen warnen seit Wochen. Und immer wieder die Nachricht, dass die, die um Nahrung betteln, an Verteilerstellen erschossen werden. Zuletzt hat Israel eine „taktische Pause" eingelegt, in der die Lebensmittelblockade gelockert wurde, bevor die Hungersnot, so muss man befürchten, weitergeht.

Der Krieg macht vor den Medien nicht halt. In der dunstigen, undurchdringlichen Gemengelage vernehmen wir die bekannte Sprache der Diplomatie, die die Form wahrt, ohne moralische Haltung zeigen zu müssen. Aus dem Weißen Haus in Washington ertönen Drei-Wort-Sätzchen („It’s so sad“) und leere Versprechen (es werde „a lot of good things“ geben ). Die Repräsentanten Europas mühen sich immerhin und verschärfen den Ton. Gewisse Informationen scheinen faktenfest: Mitte Juli, so steht es in einer seriösen Tageszeitung, haben die EU und Israel eine Vereinbarung über mehr humanitäre Hilfe für die Menschen in Gaza getroffen, aber zwei Wochen später wird „die Lage immer schlimmer“.  Deutschland, Großbritannien und Frankreich fordern Israel auf, der „humanitären Katastrophe“ ein Ende zu setzen. Sie fordern im Übrigen auch, endlich die letzten israelischen Geiseln aus ihrer elenden Hamas-Gefangenschaft freizulassen.  Das Video, das vonseiten der Hamas vor wenigen Tagen in die Welt geschickt wurde, einen abgezehrten jungen Israeli in einem engen unterirdischen Tunnel zeigend, lässt jedenfalls Böses ahnen über die unmenschliche Art, in der seine Wärter mit ihm umgehen.  

Israel weist alle Vorwürfe zurück. Es sei (mit bestimmtem Artikel) die Hamas, die auf die hilfesuchenden Palästinenser schieße, humanitäre Lieferungen plündere und zu überhöhten Preisen verkaufe, um sich dann Waffen zu besorgen. Beweise sind diesbezüglich schwer zu erbringen, es gibt nur gewisse „Informationen“ und „Schätzungen“.  Andere Repräsentanten der israelischen Sache machen es einem demgegenüber leicht, denn sie sind erschreckend ehrlich. So der ehemalige Verteidigungsminister Yoav Gallant im Oktober 2023, kurz nach dem Massaker und der Geiselnahme durch die Hamas: „Es wird keinen Strom, kein Essen und kein Benzin geben. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere.“  Fast gleichlautend Generalmajor Ghassan Aliyan an die Adresse der Palästinenser: „Ihr wolltet die Hölle – ihr sollt die Hölle haben“.  Essen gegen Geiseln – das ist hier die klare Handelsformel. So kann es für den rechtsradikalen Minister Bezalel Smotrich – man kann kaum glauben, was man liest – „gerechtfertigt und moralisch“ sein, in Gaza zwei Millionen Menschen auszuhungern, um die Geiseln freizubekommen. 

Welchen Informationen und welchen Bildern kann man vertrauen? Bilder sind nie unschuldig. Meine Generation, „Born in the Fifties“ (The Police), hat dafür ein berühmtes Vorbild, die Fotografie des nackten, schreienden „Napalm-Mädchens“ (1972) aus dem Vietnamkrieg, der sich angesichts der Ruinenlandschaft, der herumirrenden Menschen und der abgemagerten Körper wieder ins Bewusstsein drängt. Gaza als das Vietnam Israels, Bilder als Brandzeichen der Wahrnehmung. Heutzutage sind sie durch KI noch mehr manipulationsanfällig. Auf den ersten Blick ist ein Fake oft nicht erkennbar, auf den zweiten und dritten aber schon. Manche der Fotografien, die wir heute sehen, sind deutlich inszeniert. So die junge Frau in schwarzem Gewand vor hellgrauem Hintergrund, die auf ihren Armen ein halb nacktes, ausgemergeltes Kleinkind hält. Fast zu schön ausgeleuchtet. Eine palästinensisch leidende Madonna. Inzwischen gibt es Berichte über Vorerkrankungen des Kindes. Aber macht das die durch Hunger herbeigeführte Nacherkrankung weniger grausam?

Es geht hier grundsätzlich nicht um faktische, sondern ästhetische Wahrheit, nicht um simple, sondern intensive Echtheit. Ästhetisch wahr ist ein Bild, das die Kraft hat, hundert ähnliche Bilder auf ein einzelnes zu verdichten. Susan Sontag hat in ihrem Buch Das Leiden anderer betrachten (2003) eingehend über die Ambivalenzen dieser Betrachtung nachgedacht. Zu Recht erinnert sie daran, dass etwa die Fotografien aus den Konzentrationslagern der Nazis nicht nur als Beweis für unsägliche Verbrechen dienten, sondern auch als stillgestellter Ausdruck des Leidens von Menschen, der die Betrachter, uns alle, zwingt, sich letztlich mit sich selbst auseinanderzusetzen, mit dem Mitleid und seinen Grenzen, der diffusen Scham in ihrer Selbstabwertung, der voyeuristischen Sensationslust, der Anästhesierung durch Gewöhnung.

Stellt man sich die Frage, wie lange wir das alles noch ertragen müssen, etwas anders, lautet sie: Warum kann die israelische Regierung unter Netanjahu ungestraft tun, was sie derzeit tut? Warum kann sie Recht und Moral mit Füßen treten? Warum kann sie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aneinanderreihen, als wäre dies das Normalste auf der Welt? Zahlreiche Menschen, auch Repräsentanten der Politik, wehren sich dagegen, aber die Befürchtung beschleicht einen, dass wir uns an diese neue Normalität gewöhnen könnten, und der Verdacht kommt auf, dass es politisch Verantwortliche gibt, die uns daran gewöhnen wollen.

Vor Kurzem hat der israelische Schriftsteller Etgar Keret uns alle, vor allem aber seine Landsleute daran erinnert, dass der „Leichenberg in Gaza“ in einen „moralischen Abgrund“ weist. Je höher der eine, desto tiefer der andere. Mehr als tausend israelische Akademikerinnen und Akademiker haben in einem offenen Brief am 30. Mai nachdrücklich ebenfalls auf die Gefahr hingewiesen, dass die israelische Gesellschaft sich von innen heraus zerstört, wenn sie sich gegen das Leiden der Anderen, der Palästinenser in ihrer Nachbarschaft, aus Gleichgültigkeit verschließt. Auch hier ist die Rede von einem „moralischen Zusammenbruch“.  Er deutet auf eine mehrfache tragische Verknotung.

„Es ist eine Tragödie“, schrieb Amos Oz in seinem Buch Wie man Fanatiker kuriert (2004). Er meinte damit einen „Konflikt zwischen Recht und Recht“, so wie dieser häufig das katastrophale Geschehen in einer griechisch-antiken Tragödie bestimmt. Sowohl die israelischen Juden als auch die palästinensischen Araber haben demnach ein gutes, begründetes Recht auf ihrer Seite. Wenn beide Seiten es allerdings mit Absolutheitsanspruch einfordern, kommt es zum Desaster.
Die Tragödie ist aber auch ein Lehrstück für selbstzerstörerische Obsession. Je weniger ein Protagonist in der Lage ist, von einer Zwangsvorstellung und ihrer Hintergrundfurcht abzulassen, desto sicherer zerstört er sich selbst. Besteht die Obsession in der totalen Vernichtung eines Akteurs, der als Feind und Horrorgestalt wahrgenommen wird, gibt die vernichtende Macht willentlich-unwillentlich ihre Unbescholtenheit auf. So gesehen, hat die Hamas ihren Anspruch, eine Befreiungsorganisation zu sein, längst verloren. Sie verbreitet nur noch Terror. Aber umgekehrt ist Israel gegenwärtig dabei, seine moralische Glaubwürdigkeit ein für alle Mal zu verlieren.

Die Tragik, die sich heute vor unseren Augen vollzieht, hat noch eine andere erschütternde Dimension. Jenes Volk nämlich, das wie kein anderes zu einer Leidensschicksalsgemeinschaft geworden ist, ist in der Gegenwart zum großen Teil nicht in der Lage, Mitgefühl für die leidenden Menschen auf der anderen Seite des Grenzzauns zu empfinden. David Grossman hat es soeben in einem Interview ebenfalls angedeutet, wenn er vor dem Hintergrund der jüdischen Geschichte von der „unterstellten Sensitivität für das menschliche Leiden“ spricht, die die aktuelle Situation besonders niederschmetternd mache.  Die Angst vor diesen Anderen, der Hass auf ihren todbringenden Terrorismus, der religiös-kulturelle Glaube an die eigene Überlegenheit – diese Gefühle sind stärker. Eva Illouz hat sie in ihrem Buch Undemokratische Emotionen (2023) anhand von Angst, Abscheu, Ressentiment und blindem Nationalismus analysiert. Es sind diese Gefühle, die glücklicherweise nicht alle, aber doch eine Mehrheit der Menschen Israels tragisch gefangen halten.

Man sehnt die rettende Tat herbei. Eine Aktion, gemeinschaftlich oder vielleicht sogar durch eine Person, die den Gordischen Knoten durchschlagen könnte. In gewisser Weise gäbe es diese Person tatsächlich, aber sie sitzt im sogenannten Weißen Haus in Washington und hat keinerlei Interesse, die schützende Faust über Israel zurückzuziehen und mit einem Stopp der Waffenlieferungen zu drohen. Sie träumt stattdessen von einer neuen „Riviera im Nahen Osten“, in dem eine Menge Geld vom Himmel auf die Menschen, vor allem natürlich die US-amerikanischen Investoren, herniederkommt und der Präsident der USA zusammen mit dem Ministerpräsidenten Israels am Strand genüsslich einen Cocktail zu sich nimmt. So malt es ein Video aus, gedacht als Satire, aber von Donald Trump in all dem aufgedonnerten Kitsch, kolonialer Ideologie und kapitalistischem Zynismus ernst genommen.

Spricht wenigstens jemand das erlösende Wort? Darauf zu warten, muss in modernen, erlösungsskeptischen Zeiten ebenfalls vergeblich sein. Aber es gibt immerhin treffende Worte. An ihnen können irgendwann auch die Regierenden nicht mehr vorbei. Auch wenn Worte allein die Hungernden nicht satt machen. •

 

Josef Früchtl ist emeritierter Professor für Kunst- und Kulturphilosophie an der Universität Amsterdam. Sein Buch „Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne“ (Suhrkamp, 2004) ergründet Formen des modernen Helden im Film. Zuletzt erschien von ihm „Demokratie der Gefühle. Ein ästhetisches Plädoyer“ (Meiner, 2021).

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