Gerecht oder gut?
Warum sich die Klimabewegung aus dem Griff des Liberalismus lösen muss, um angemessen auf die ökologische Krise zu antworten.
Ein Staat, der den Klimawandel nicht ernsthaft bekämpft, verletzt die Menschenrechte seiner Bevölkerung. So urteilte im April 2024 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Geklagt hatten die „KlimaSeniorinnen Schweiz“: Ältere Frauen seien von der zunehmenden Hitze in besonderem Maße betroffen und hätten daher ein besonderes Recht auf Schutz. Das Gericht folgte dieser Argumentation – und erkannte damit an, dass nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen von der Klimakatastrophe betroffen sind. Klimaschutz ist also auch eine Frage der Gerechtigkeit.
Die soziale Dimension der ökologischen Krise
Von climate justice hatte man bis dahin eher im letztgenerationalen Straßenkampf als im letztinstanzlichen Gerichtssaal gehört. Der aktivistischen Avantgarde diente das Konzept nicht bloß zur Distinktion von den gemäßigten Vorgängern, die noch unter dem Banner des Umweltschutzes liefen. Mit der Aneignung des englischen Begriffs wurde die soziale Dimension der ökologischen Krise betont. Die Erderhitzung ist ein physikalisches Phänomen, ihre Ursachen sind aber ebenso gesellschaftlich wie die Folgen. Das gilt auch für Lösungsvorschläge, die rein technologisch daherkommen.
Die Klimakatastrophe ist keine Katastrophe des Klimas, sondern eine Katastrophe des menschlichen Zusammenlebens. Nicht alle tragen die gleiche Verantwortung für die Zerstörung von Klima und Biodiversität. Und nicht alle leiden auf dieselbe Weise darunter. Verwüstet werden vor allem Regionen in ehemals kolonisierten Ländern, auf deren Rücken der fossile Wohlstand errichtet wurde. Kaum beginnen einige, selbst daran teilzuhaben, heißt es plötzlich, nun müssten leider alle den Gürtel enger schnallen.
Diesen Zynismus spießt das Konzept der Klimagerechtigkeit auf. Nicht nur im global-historischen Rahmen, sondern auch innerhalb der Länder des globalen Nordens hilft der Begriff dabei, ökologische und soziale Kämpfe zu verbinden. So versucht es in Deutschland etwa das Bündnis zwischen Fridays for Future und Ver.di: Die ökologische Transformation verlangt, dass von privatisierten auf öffentliche Transportmittel umgestellt wird. Und wenn mehr Leute Bus fahren sollen, dann braucht es bessere Arbeitsbedingungen für die Fahrer:innen.
Mehr Kuchen oder ein anderes Rezept?
Die soziale Erweiterung der ökologischen Perspektive ist unverzichtbar. Klimagerechtigkeit geht dabei aber nicht weit genug. Wie sich die Lasten der ökologischen Verwüstungen und die Bürden der Dekarbonisierung gerechter verteilen lassen, bleibt eine quantitative Frage. Wer wie viel hat und wer wie viel verliert, entscheidet allzu oft über Leben und Tod. Dennoch wird damit eine andere, in mancher Hinsicht noch grundlegendere Perspektive auf sozialökologische Verhältnisse verdrängt. Wer überlebt, ist eine offensichtlich essentielle Frage. Eine andere ist, welche Form dieses Überleben annimmt. Das eine ist die quantitative Verteilung innerhalb des gegebenen Rahmens, etwas anderes die Qualität dieses Rahmens selbst.
Wenn das Haus in Flammen steht, ist erst einmal zweitrangig, wer kocht und wer den Abwasch macht. Oder realitätsnäher: wer im Keller erstickt und wer im klimatisierten Wohnzimmer Netflix bingt. Vermutlich wird die WG-Elite den Brand in einem feuerfesten Raum überleben und die Mitbewohner:innen aussperren, die schon immer zu dreckig und laut waren. Offensichtlich wäre das ungerecht. Aber selbst wenn: wie gut ist das gute Leben tatsächlich, das sich die Minderheit auf Kosten der Allgemeinheit macht?
Denn auch die Profiteure sind nicht mehr, was sie einmal waren. Das gehört zu den frivolen Beobachtungen, die man im Untergang unserer noch nie sonderlich zivilisierten Zivilisation machen kann. Der untote Spätkapitalismus hat die altreichen Erben und neureichen Techbros derart ausgehöhlt und abgestumpft, dass sie zu echter Dekadenz gar nicht fähig sind. Das Leben in Mars-Kolonien und privaten Inselstaaten wird ein Leben in Langeweile und schlechter Gesellschaft sein. Survivre ohne savoir vivre. Nicht einmal auf eine gute Party zum Schluss darf man noch hoffen.
Gerechtigkeit: eine bürgerliche Kategorie
Manche meinen, Liberalismus habe mit Freiheit zu tun und Gerechtigkeit mit Sozialismus. In Wahrheit ist es umgekehrt. Die liberale Vorherrschaft kennt seit John Rawls keine andere Form politischen Denkens als Gerechtigkeitstheorie. Dagegen sind es marginalisierte Strömungen kritischer Gesellschaftstheorie, die darauf beharren, dass Gerechtigkeit nicht das einzige normative Kriterium ist – und noch nicht einmal das wichtigste. Die Weise, in der Menschen zusammenleben und im „Stoffwechsel mit der Natur“ (Karl Marx) ihre Reproduktion gestalten, kann nicht nur mehr oder weniger ungerecht sein, sondern auch mehr oder weniger irrational. Die Frage, wie sich unser gemeinsames Leben als Ganzes sinnvoller gestalten ließe, ist dem Liberalismus suspekt. Indem er die Reflexion über soziale und ökonomische Alternativen delegitimiert, blockiert er wirkliche Freiheit.
Gerechtigkeit ist ein zentraler Wert bürgerlich-liberaler Gesellschaften. An diesem eigenen Anspruch scheitern sie krachend. Das bedeutet aber nicht, dass die von ihnen in die Welt gesetzten Ideale das letzte Wort behalten. Kapitalismus legitimiert sich unter Verweis auf Chancengleichheit. Tatsächlich sind Reichtum, Armut und Überlebenschancen wie zu besten feudalen Zeiten Gnadenwahl der Geburt. Die Realität spricht den bürgerlichen Normen Hohn. Aber der Kapitalismus könnte hundertmal gerechter sein und würde dennoch weiterhin seine eigenen ökologischen Grundlagen untergraben. Eine Gesellschaftsform, die auf den Kollaps menschlichen Lebens hinsteuert, hat mehr als ein Gerechtigkeitsproblem.
Der liberale Tunnelblick muss erweitert werden, hin auf das Gelingen des Ganzen. Erst dann findet Gerechtigkeit ihren rechten Ort. Wie unsere Arbeits- und Lebensweisen anders gestaltet werden sollten, ist nicht bloß eine Frage der Gerechtigkeit. Ein solches Projekt ist aber auf eine gerechte Verteilung kapitalistischer Altlasten und ökologischer Transformationskosten angewiesen. Soziale Emanzipation kann kein Elitenprojekt sein. Um breite Koalitionen zu bilden, muss Gerechtigkeit sowohl ein zentrales Ziel sein als auch auf dem Weg dorthin bereits praktiziert werden. So sinnlos Klimagerechtigkeit ohne Klimagelingen, so aussichtslos Klimagelingen ohne Klimagerechtigkeit. •