Herr und Knecht
Nur knapp zehn Seiten umfasst Hegels „Dialektik von Herr und Knecht“ – und ist dabei so wirkmächtig wie kaum ein anderer Text der Philosophiegeschichte. Lea Wintterlin stellt Ihnen vier bedeutende Interpretationen vor.
Das Kapitel aus der Phänomenologie des Geistes schildert, wie das Selbstbewusstsein auf ein anderes trifft, aber in dieser Begegnung keine Selbstgewissheit findet, solange das Verhältnis ein ungleiches ist. Der Herr bleibt abhängig vom Knecht und dessen Arbeit, während dieser, auch wenn unfrei, sich zumindest in seiner Arbeit als Selbst erfahren kann. Letztlich aber, so Hegel, finden wir nur in wechselseitiger Anerkennung wahre Selbstgewissheit. Erst im „Wir“ vollendet sich das „Ich“. Diese Gedanken haben viele Philosophen maßgeblich geprägt. Ihre unterschiedlichen Interpretationen zeugen von der Vielschichtigkeit des Originaltextes.
Phänomenologie des Geistes, in: Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 109–115
„Das Selbstbewußtseyn ist an und für sich, indem, und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes. (…) Das Verhältniß beyder Selbstbewußtseyn ist also so bestimmt, daß sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. — Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewißheit ihrer selbst, für sich zu seyn, zur Wahrheit an dem andern, und an ihnen selbst erheben. (…) In dieser Erfahrung wird es dem Selbstbewußtseyn, daß ihm das Leben so wesentlich als das reine Selbstbewußtseyn ist. (…) (S)o sind sie als zwey entgegengesetzte Gestalten des Bewußtseyns; die eine das selbstständige, welchem das Fürsichseyn, die andere das un- selbstständige, dem das Leben oder das Seyn für ein anderes, das Wesen ist; jenes ist der Herr, diß der Knecht. (…) Das unwesentliche Bewußtseyn ist hierin für den Herrn der Gegenstand, welcher die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst ausmacht. Aber es erhellt, daß dieser Gegenstand seinem Begriffe nicht entspricht, sondern daß darin, worin der Herr sich vollbracht hat, ihm vielmehr ganz etwas anderes geworden, als ein selbstständiges Bewußtseyn. (…) Die Wahrheit des selbstständigen Bewußtseyns ist demnach das knechtische Bewußtseyn. (…) das formirende Thun, ist zugleich die Einzelnheit oder das reine Fürsichseyn des Bewußtseyns, welches nun in der Arbeit außer es in das Element des Bleibens tritt; das arbeitende Bewußtseyn kommt also hiedurch zur Anschauung des selbstständigen Seyns, als seiner selbst.“
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