Jung und operiert
Immer mehr Menschen lassen schönheitschirurgische Eingriffe vornehmen, unter ihnen auch Feministinnen. Wie ist das zu erklären?
Die Nachfrage nach Schönheitsoperationen steigt, vor allem unter jungen Menschen. So ergab eine Umfrage des ZDF, dass in der Altersgruppe zwischen 25 und 34 Jahren jeder Sechste bereits einen Eingriff hat vornehmen lassen und über 40 Prozent prinzipiell bereit dazu sind. Naheliegende Erklärungen sind schnell bei der Hand: So wächst der Einfluss der sozialen Medien, die Verfügbarkeit von minimalinvasiven und vergleichsweise erschwinglichen Eingriffen steigt und im Zuge der Videokonferenzen sehen sich Menschen stärker mit dem eigenen Bild konfrontiert. Bemerkenswert ist jedoch, dass zuletzt zunehmend junge Feministinnen über ihre Operationen berichten. Sie begründen ihre Entscheidungen mit patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, in denen Frauen zwangsläufig auf ihr Äußeres reduziert und bei Nichteinhaltung der gängigen Normen abgestraft werden. So zeigen sich in diesem Trend auch die Ambivalenzen des gegenwärtigen Feminismus. Auf der einen Seite wurden sowohl der Körper als auch Geschlechts- und Schönheitsnormen radikal dekonstruiert: Sie erscheinen nicht mehr als das schlicht Gegebene, mit dem es sich zu arrangieren gilt, sondern als das immer schon gesellschaftlich Geformte und zu Gestaltende: Als Frau wird man nicht geboren, sondern im Lauf des Lebens zu einer gemacht; das Schöne ist nicht als solches schön, sondern das, was die Mächtigen dazu erklären. Auf der anderen Seite wird die Bedeutung sozialer Strukturen derart betont, dass sie ihrerseits etwas Schicksalhaftes und Unabänderliches bekommen, gegen das der Einzelne beinahe ebenso wenig ankommt wie nach der früheren Vorstellung gegen die Natur. Folglich bleibt nur, sich Normen zu unterwerfen, deren Berechtigung man nicht anerkennt und deren Abschaffung man erwartet – eine Einstellung, die man strategisch nachvollziehbar, unehrlich oder aber selbstbewusst ironisch finden kann. Doch spricht die Hartnäckigkeit des Leidens an unerreichter Schönheit vielleicht dafür, dass es sich nicht um ein bloßes Symptom unterdrückerischer Gesellschaftsstrukturen, sondern um eine menschliche Grunderfahrung handelt: Der Schöne, das ist meistens der andere. Jenseits der chirurgischen Bearbeitung gibt es Möglichkeiten, mit dieser Erfahrung umzugehen. Eine bestünde darin, im Schönen einen Anlass zur Bewunderung, zum Denken und künstlerischen Schaffen zu sehen. •
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