Mein Nein
Auf je eigene Weise lehnen Mariya Merkusheva, Larissa Morgenstern, Lu Metz und Florian Heck etwas ab, das für andere zentral zum Leben gehört: Arbeit, Kinder, Alkohol und Sex. Ihre Beweggründe unterscheiden sich, die Bestimmtheit ihres Neins vereint sie.
Mariya Merkusheva: Nein zur Arbeit
In einer ruhigen, selbstbewussten Körperhaltung sitzt Mariya Merkusheva im Café und erzählt, weshalb sie mit ihren 25 Jahren bereits genug vom Arbeitsmarkt hat. Den Ort hat sie ausgewählt, es handelt sich um ein alternatives Café in Berlin-Neukölln, das sich im Eingangsbereich eines Projekthauses befindet: Refugio. Ihr gefalle die offene Atmosphäre und vor allem, dass es keine klare Aufgabenverteilung gebe. Jeder sei für alles zuständig. Mariya trägt eine weiße Bluse und hat eine nüchterne, sanfte Stimme. Ihre zurückhaltenden Bewegungen stehen im Kontrast zu ihrer gefestigten inneren Haltung, die sie mit Überzeugung vertritt. Sie habe, wie sie unaufgeregt berichtet, soeben erfolgreich ihr Studium der Philosophie und Soziologie abgeschlossen. Jetzt in den Arbeitsalltag einsteigen? Sich ein Leben lang knechten? Darauf hat sie keine Lust. Mariya gehört zu einer wachsenden Anzahl junger Menschen, die in einem Alter, in dem man üblicherweise ins Berufsleben einsteigt, am liebsten daraus aussteigen würden. „Ich kann keine stumpfsinnige Tätigkeit ausüben“, sagt Mariya. „Es macht mich krank. Mein Leben hat einen anderen Sinn. Einen Sinn, der nicht entlohnt werden muss.“
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Kommentare
Als ehemaliger Philosophiestudent und Idealist bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass nichts unglücklicher macht und mehr in die Irre führt, als das rigide Festhalten an Idealen und Haltungen jedweder Art. Das Verharren auf Idealen hat mehr mit der Verdrängung einer tieferen persönlichen Wahrheit oder Kränkung zu tun als man denkt - und kann das gesamte eigene Leben korrumpieren und verarmen lassen. Nietzsche ahnte das schon und die Psychoanalyse hat es zu Ende gedacht.
Ich verstehe mich auch als jemand, der viel Zeit für sich braucht, für Muße und künstlerischem Schaffen - und hadere auch damit, mein Kind und mein "Ego" unter einen Hut zu bringen. Trotzdem wollte ich immer Kinder, da mir klar war, dass diese Erfahrung einzigartig und unersetzlich ist.
Die Kunst kommt zu kurz und das ist schmerzlich. Aber bei all der Entbehrung und Mühe, die ein Kind mit sich bringt, ist die Bereicherung unermesslich - und erweitert letztendlich die eigene Kunst, wie sonst nichts anderes. Ohne Mühsal und schmerzlichen Kompromissen entsteht auch kein künstlerisches Wachstum. Es ist utopisch - und faul! - zu glauben, ein "Nein" führe zu mehr Zufriedenheit. Wenn etwas zu mehr Zufriedenheit führt, dann ist es das alltägliche erkämpfen mehrerer "Ja".
Mit bejahenden Grüßen,
tomhelman.de