Braucht Verstehen Empathie?
Für die Schriftstellerin Mithu Sanyal ist Einfühlung wesentlich für gelungene Kommunikation. Gefühle sind überhaupt nicht wichtig, hält der Medientheoretiker Norbert Bolz dagegen. Ein Gespräch über die Bedeutung von Nähe in Verstehensprozessen.
Ihre Ansichten über Identitätspolitik, Migration oder Klimakrise liegen weit auseinander: Mithu Sanyal ist Feministin und Vordenkerin einer aufgeklärten Identitätspolitik. Norbert Bolz hält die traditionelle Familie hoch und ist ein entschiedener Kritiker von Wokeness und Political Correctness. Und doch gehören beide zu denen, die sich für andere Sichtweisen interessieren – wäre es anders, hätten sie diesem Gespräch, das aus organisatorischen Gründen digital stattfindet, kaum zugestimmt. Schnell zeigt sich, dass die Schriftstellerin und der Medientheoretiker auch mit Blick auf das heutige Thema verschiedener Ansicht sind: Für Sanyal sind leibliche Präsenz und Einfühlung kommunikationserleichternd, Norbert Bolz ist entgegengesetzter Ansicht: Für ihn zählt die reine Information, die durch körperliche Anwesenheit eher verzerrt wird. Weil Mithu Sanyals Internetverbindung schlecht ist, werden die Videos bald ausgeschaltet. Zu hören sind nur die Stimmen.
Philosophie Magazin: Frau Sanyal, Herr Bolz, worauf führen Sie Ihre verschiedenen politischen und weltanschaulichen Einstellungen zurück? Ihre familiären Hintergründe, Ihr Geschlecht, Ihr Alter?
Mithu Sanyal: Ich bin, würde ich sagen, klassisch links in Westdeutschland sozialisiert, hatte Kontakt zur Hausbesetzerszene, zur Antifa. Und dann gibt es die Erfahrung meiner Eltern und Großeltern, die aus Indien und Polen nach Deutschland eingewandert sind. Das hat mich natürlich sensibilisiert für Themen wie Kolonialismus und Rassismus.
Norbert Bolz: Ich führe meine heutigen Haltungen im Wesentlichen auf das Alter zurück. Hinter mir liegen viele Wendungen, was Politik und auch philosophische Überlegungen angeht. Ich bin wie praktisch jeder halbwegs akademisch ausgebildete Mensch, der in den 1970er-Jahren an die Uni gekommen ist, durch und durch links orientiert gewesen. Aber es spielt eine große Rolle, wie Sie sich lebensgeschichtlich weiterentwickeln. Wenn Sie eine Familie gründen, müssen Sie zum ersten Mal wirklich Verantwortung übernehmen. Das hat mich – ich habe übrigens einen proletarischen Hintergrund – in Richtung Bürgerlichkeit geführt. Mal sehen, ob ich durch das Wort „bürgerlich“ noch weiter in die böse Ecke geschoben werde …
Das klingt, als fühlten Sie sich manchmal missverstanden?
Bolz: Nein. Es ist einfach so, dass sich unendlich viele äußern, ohne zu wissen, was ich gesagt oder geschrieben habe. Ich würde aber niemals fordern, dass man erst einmal meine Bücher lesen soll, bevor man mich kritisiert. Das wäre idealistisch und unrealistisch. Ich akzeptiere das einfach und halte mich an die wunderbare englisch-royale Haltung „never complain, never explain“.
Sanyal: Ich würde schon von mir sagen, dass man mich bisweilen missversteht. Das lässt sich nicht immer verhindern, aber ich fände die Forderung, dass ein Gegenüber sich erst einmal mit meinen oder Ihren Texten beschäftigt, schon sehr charmant. Das ist doch die Grundlage von Kritik. Ich habe aber noch eine Rückfrage, Herr Bolz, zu Ihrer Bemerkung, dass die Familiengründung für Ihre Welthaltung so entscheidend war. Ich habe auch eine Familie gegründet, und das hat meine politischen Ansichten erweitert, aber nicht grundlegend verändert. Warum war das bei Ihnen so dramatisch?
Bolz: Es war nicht nur das Eltern-Werden, sondern es gab auch eine intellektuelle Metanoia. Als ich nach Berlin kam, bin ich durch meinen Professor, Jacob Taubes, mit einer geistigen Welt in Kontakt gekommen, die vorher tabu für mich war und die manche als rechts oder sogar reaktionär bezeichnen würden. Ich habe Carl Schmitt gelesen, Martin Heidegger … Taubes ermutigte mich: Vergessen Sie doch Ihre kindische Angst!
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