Das Lügenparadox
In der Politik nutzt man Lügen im Dienste einer höheren Wahrheit oder Wahrheiten, die man zur Lüge verdreht. Da scheint die Diagnose der Postfaktizität nicht weit. Doch wer den „Tod der Wahrheit“ beklagt, trauert eigentlich nur um eine große Lüge – und ist selbst der Wahrheit größter Feind, meint Slavoj Žižek.
Das sogenannte Lügenparadox – Aussagen wie „Alles, was ich sage, ist falsch“ – wurde vom antiken Griechenland und Indien bis hin zur Philosophie des 20. Jahrhunderts endlos diskutiert. Das Problem ist, dass, wenn diese Aussage wahr ist, sie falsch ist (nicht alles, was ich sage, ist falsch) und umgekehrt. Jacques Lacan bietet für dieses Problem eine einzigartige Lösung an, indem er zwischen dem ausgesprochenen Inhalt einer Aussage und der durch diese Aussage implizierten subjektiven Haltung unterscheidet: zwischen dem Inhalt dessen, was man sagt, und der subjektiven Haltung, die durch das, was man sagt, vermittelt wird. Sobald wir diese Unterscheidung einführen, sehen wir sofort, dass eine Aussage wie „Alles, was ich sage, ist falsch“ selbst wahr oder falsch sein kann. „Ich lüge immer“ kann die subjektive Erfahrung meiner gesamten Existenz korrekt als unecht, als Fälschung darstellen. Das Gegenteil ist jedoch auch der Fall: Die Aussage „Ich weiß, dass ich ein Stück Scheiße bin“ kann an sich buchstäblich wahr sein, aber auf der Ebene der subjektiven Haltung, die sie vorgibt, falsch – sie impliziert, dass ich durch das Aussprechen dieser Aussage irgendwie demonstriere, dass ich nicht vollständig „ein Stück Scheiße“ bin, dass ich ehrlich zu mir selbst bin…Unsere Antwort darauf sollte eine Paraphrase des bekannten Spruchs von dem Schauspieler Groucho Marx sein: „Du benimmst dich wie ein Stück Scheiße und gibst zu, dass du ein Stück Scheiße bist, aber das wird uns nicht täuschen - du bist ein Stück Scheiße!"
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