Die perfekte Sommerlektüre: Ute Cohen über die Kunst des Glamourösen
Wer diesen Sommer in den Genuss einer sonnenbeschienenen Terrasse kommt, ein italienisches Kaltgetränk zur Hand, sollte Glamour von Ute Cohen hinzunehmen. Ein Buch, das Tiefsinn findet an der schillernden Oberfläche und die Ästhetik im Alltag zelebriert.
Welches Buch für den perfekten Sommer hätte wohl der reisende Dandy Harry Graf Kessler empfohlen, während er auf der Terrasse des Hotels Quisisana den Blick über das tyrrhenische Meer schweifen ließ? Zweifellos den Essayband Glamour der Berliner Autorin Ute Cohen. Ihr jüngstes Buch stellt das seltene Wagnis dar, ausgerechnet in deutscher Sprache über gesellschaftliche und individuelle Phänomene zu schreiben, die nördlich der Alpen kulturell überhaupt nicht endemisch sind: ästhetische Selbstinszenierung und ironische Maskierung, rebellische Lebenskunst und charismatische Selbstentblößung, modische Metamorphosen und verspielte Provokation. Kurzum, Ute Cohen sucht den Tiefsinn an der Oberfläche und die höhere Lebenskunst im Alltag, eine überaus rare Betrachtungsweise, wie sie vor ihr vielleicht nur noch Walter Serner praktizierte.
Im angelsächsischen Kulturraum ist diese Form der geistvoll unterhaltenden Prosa ein keineswegs exotisches Genre. Oscar Wilde und Ford Madox Ford, Truman Capote und Tom Wolfe, Carson McCullers und Joan Didion waren die Meisterinnen und Meister des anspielungsreichen Essayismus. Dieser literarischen Tradition sieht sich auch Ute Cohen verpflichtet, doch sind ihre geografischen Referenzpunkte vor allem Frankreich und Italien. Kein Wunder, schließlich sind dort Schönheitsempfinden und ästhetische Sensitivität Teil der kulturellen Identität, die Herzkammern einer ganzen Industrie aus Mode und Film, Literatur und bildender Kunst, während man hierzulande vorzugsweise rostfreie Kochtöpfe, spülmaschinentaugliche Kaffeetassen und hitzeresistente Erdbeersorten produziert.
„Vor allem in der Literatur ist Glanzvolles in Verruf geraten“, schreibt Cohen, „aus Angst davor, einem soziologischen Wahrheitsanspruch nicht zu genügen“. Anders gesagt, man muss den ganzen Bildungsballast auch abwerfen können, um den nötigen Auftrieb zur ästhetischen Selbstinszenierung zu bekommen. Wer Moral und Geschichte, Milieu und Tradition hinter sich lässt, gewinnt zumindest die theoretische Freiheit, sich neu zu erfinden. Das ist das Geheimnis des Glamours – und zugleich seine Geburtsstunde. Für Ute Cohen ist Ava Gardner, die Tochter eines verarmten Farmers aus North Carolina, die unangefochtene Göttin des Glamours. Eine unbedingt nachvollziehbare Wahl!
Kenntnisreich führt uns Cohen durch die Boudoirs des Fin de Siècle, die Hollywoodstudios der 1940er Jahre und die Künstlergarderoben von Popstars wie David Bowie und Boy George. Anekdoten und Bonmots wechseln mit Reflexionen über Narzissmus als Pathologie und Moralismus als Hypertrophie des Glamourösen. Cohens amüsante Aperçus, die niemals die Grenze zur Indiskretion überschreiten, erinnern ein wenig an die Konversationskünste der literarischen Salons.
Diese Form des virtuosen Dialogs, der stets zu Widerspruch provoziert, ohne ins Polemische abzugleiten, gehört allerdings der Vergangenheit an. Ute Cohens Stil ist in etwa so obsolet (oder auch so zeitlos-aktuell) wie ein kostbares Seidentuch mit alten japanischen Motiven. Was die einen mögen, finden die anderen ein wenig zu gesucht. Als Leser lässt man sich das aber gerne gefallen; ihr Buch ist schließlich die willkommene, ja, geradezu notwendige Abwechslung zur Bratwurstästhetik und Schlüssellochoptik zeitgenössischer deutscher Prosa.
Eine kritische Bemerkung drängt sich dennoch auf. Gabriele d’Annunzio, die katholische Kirche und Leni Riefenstahl kommen ganz unverdientermaßen gut weg. Der Erfinder des faschistischen Stils und die führende Filmemacherin des Nationalsozialismus werden unter rein ästhetischen Gesichtspunkten viel zu gnädig behandelt. Gleiches gilt für den verbrecherischen Katholizismus und seine medialisierten Mysterienspiele. Die ernsten und fragwürdigen Bereiche des Lebens und der menschlichen Gesellschaft haben mit Glamour natürlich nicht allzu viel zu tun.
Schon Graf Kessler wusste, dass Glamour nichts anderes ist als eine ebenso verführerische wie irrtümlich-gefährliche Projektion des Betrachters. Eine schillernde Oberfläche – doch schillernd, immerhin! Auf einer südlichen Sommerterrasse, bei einem Glas Campari auf Eis oder einem Bellini mit frisch gepresstem Pfirsichsaft, entfaltet Ute Cohens Glamour seine volle Wirkung, das angenehme Gefühl eines flüchtigen, dabei folgenlosen Berauschtseins. Nietzsche hätte getanzt. •
Ute Cohen: „Glamour. Über das Wagnis, sich kunstvoll zu inszenieren“, zu Klampen! Verlag, 184 S., 22 €
Dominik Pietzcker studierte Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaft in Freiburg i. Br., Dublin und Wien. Er lehrt Medienmanagement an der Macromedia University of Applied Sciences in Hamburg, an der Shanghai International Studies University sowie an der Fudan University. Sein aktuelles Buch „Was ist Schönheit? Eine kurze Geschichte der Ästhetik von der Antike bis zur Globalisierung“ ist im Herder Verlag erschienen.
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