Die Stacheln der Anderen
In der Coronakrise hat sich eine grundlegende Zwiespältigkeit zugespitzt: Einerseits sehnen wir uns nach Nähe. Doch Nähe bedeutet: Kontrollverlust. Wie umgehen mit der Unverfügbarkeit, die in jeder Begegnung wohnt? Ein Essay von Svenja Flaßpöhler.
Mit Blick auf die Pandemie besitzt dieser Satz leibliche Evidenz. Begrüßungsrituale wie Händeschütteln, Umarmungen oder Wangenküsschen sind auf dem Rückzug. Entschließt man sich der viralen Gefahr zum Trotz dafür, das Gegenüber kurz an sich zu drücken, dreht man automatisch den Kopf zur Seite. Wenn man den anderen schon berührt, will man ihn zumindest nicht anatmen. Es ist eine Geste, mit der man sagt: Ich leugne die Gefahr nicht und bin mir der Überschreitung wohl bewusst, aber irgendwann muss man ja auch wieder einigermaßen normal miteinander umgehen. Oder?
Der Zweifel, der in diesem „oder“ steckt, verweist auf die Dimension dessen, was auf dem Spiel steht. Denn die Frage ist, ob wir zu einem Normal überhaupt zurückkehren werden. Oder anders gesagt: Die Frage ist, ob in dem, was wir für normal gehalten haben, nicht bereits eine Ambivalenz verborgen lag, die sich jetzt mit Wucht offenbart – und das Pendel immer stärker in Richtung Distanz ausschlagen lässt. So hat sich in jüngster Zeit gezeigt, dass viele Menschen nach erfolgten Lockerungen der Coronamaßnahmen sich keineswegs mit Lust ins Sozialleben werfen: Anstatt endlich wieder in Bars, Theater oder Clubs zu gehen, ziehen sie es vor – so besagt das sogenannte Cave-Syndrom –, zu Hause zu bleiben. Sicherlich spielt hier Angst vor Ansteckung eine Rolle. Doch es gibt auch einen tieferen, existenzielleren Grund für diesen Zug ins Asoziale, der mit dem Menschsein selbst zusammenhängt. Gewiss, einerseits sehnen wir uns nach Nähe, wollen uns berühren, aneinander wärmen, und zwar keineswegs nur leiblich, sondern auch seelisch. Was ist beglückender, als einen geliebten Menschen auf der eigenen Haut zu spüren, was beruhigender, als sich mit einem Freund eng verbunden zu wissen. Andererseits aber ist jede Nähe mit der Gefahr von Enttäuschung und Verletzung oder auch schlicht: Gereiztheit behaftet. Vielleicht wendet sich der, der gestern noch „Ich liebe dich“ sagte, schon morgen ab. Welcher Mensch besäße – bei aller Freundschaft! – keine unliebsamen Eigenschaften. Ja, sind andere vernunftbegabte Wesen mit ihren Urteilen, Forderungen und Abgründen nicht immer auch eine Zumutung? Niemand hat diese Zwiespältigkeit des Menschen, Nähe zu begehren und gleichzeitig zu meiden, gelungener auf den Punkt gebracht als der Philosoph Arthur Schopenhauer. Hier seine berühmte Parabel aus dem Jahr 1851:
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