Experte, Populist und Philosoph
Der Experte hat Konjunktur, der Populist aber auch. Beide verwalten den Status quo. Allein der Philosoph sucht nach Auswegen. Ein Impuls von Moritz Rudolph.
Angela Merkel als Wissenschaftskanzlerin, Christian Drostens mediale Dauerpräsenz, die „Fridays for Future“-Forderung „Follow the Science!“ und nun auch noch Karl Lauterbach als Gesundheitsminister – der Siegeszug der Experten scheint unaufhaltsam, während die Politik zum ausführenden Organ mutiert, das sich daran messen lassen muss, ob es ihren Ansprüchen genügt. Doch es gibt auch eine mächtige Gegenbewegung – von Trump über Bolsonaro und Modi bis zu Querdenkern, die sich um evidenzbasierte Wissenschaft nicht scheren, sondern ihre Orientierung aus dem Mythos ziehen und den Zorn zum Argument machen.
Probleme mit wissenschaftlichen Sachzwängen haben auch viele Protestbewegungen: stumme wie die Lockdown-Riots in den Niederlanden; undeutliche, zum Beispiel Gelbwesten, die kaum mehr als ein diffuses Unbehagen artikulierten; oder ungeduldige, die nicht gegen die Wissenschaft, aber gegen die herrschende Lehre vorgingen und etwas lauter auftreten mussten, um sich Gehör zu verschaffen – Syriza zum Beispiel oder die „Indignados“, die Empörten.
Zur Signatur unserer Jahre gehört beides – die nüchterne Abwägung und die Aufregung, der Wille zur statistischen Erfassung der Lage und zur Lösung des gordischen Knotens. Wie so oft ist Italien Vorreiter in der politischen Modellierung: Nachdem es in den vergangenen 2000 Jahren bereits Republik und Imperium, Kapitalismus und Stadtstaat, Theokratie und Faschismus erfunden und exportiert hat, schwankt es im 21. Jahrhundert zwischen Professoren und Volkstribunen, Technokraten und Schauspielern, zwischen Berlusconi und Prodi, Grillo und Monti, Salvini und Draghi. In rascher Abfolge präsentiert es Gegensätze, die eine Parteinahme schwermachen.
Intuition und Methode
Denn hier stehen sich nicht Wahrheit und Lüge, Durchblick und Dummheit, richtig und falsch gegenüber, sondern zwei Seiten der Wahrheit, die nicht zusammenfinden. Sie zu verbinden, ist die Aufgabe des Philosophen. Er lebt von Argument und Affekt, von Zahl und Zorn und Zauber. Am Anfang steht sein Unbehagen am offiziellen Wissensbestand und die Ahnung, dass es auch ganz anders sein könnte. Also stellt er Fragen, sammelt Beweise – nicht nur Statistiken, sondern auch Umdeutungen: Gehören Populist und Experte vielleicht zusammen? Welcher Geschichtslogik arbeiten sie zu? Kehren alte Muster wieder? Auf höherer Stufe? Gibt es einen Ausweg?
Der Philosoph spürt geheimen Verbindungen nach. Er folgt jeder Spur, nicht nur der sicheren. Hat er etwas Neues entdeckt, gerät er in Aufregung und schreibt es im Rausch hin. Das merkt man seinen Texten an, aus denen die Liebe zur Sache spricht. Das bringt ihn mit dem dauerwütenden Populisten in Konflikt, aber auch mit dem Experten, dessen routinierten Formelvollzug er nicht sonderlich interessant findet. Der Experte ist Fachmann, Wissenschaftler, Rechenmeister. Mit kaltem Werkzeug rückt er seinem Gegenstand zu Leibe. Der Philosoph besitzt kein Werkzeug. Er hat tausend Ideen zur Deutung der Lage, die der Experte anschließend ordnet. Wo dieser für sich Objektivität reklamiert (und sich damit etwas vormacht), ist der Philosoph involviert.
Oft ist ihm selbst nicht ganz klar, woher er seinen Spürsinn nimmt. Er arbeitet intuitiv, der Experte methodisch abgesichert. Er will nichts anbrennen lassen. Der Experte mag keine Überraschungen, schon gar keine politischen, der Philosoph sehnt sie herbei, weil er auf frisches Material zum Deuten hofft. Zwar entgleiten ihm so die Dinge, aber an Kontrolle hat er ohnehin kein Interesse. Einen Philosophenkönig kann es nicht geben, nur den Expertenkönig, den größten Schlaumeier und Verwalter des Status quo, während der Philosoph die Krone niederlegt und einen Ausweg sucht, wo Experte und Populist nur einen Weg gelten lassen wollen. Sie sind sich ihrer Sache sicher, preschen voran und reißen Millionen mit. Der Philosoph zögert. Das Eindeutige interessiert ihn nicht. Sein Ziel ist nicht der Befehl, sondern die Überraschung, die gedankliche Umwälzung, aus der etwas Neues entstehen kann. •
Moritz Rudolph hat Geschichte, Politik und Philosophie studiert und arbeitet an seiner Dissertation zu internationaler Politik in der älteren Kritischen Theorie. Sein Buch „Der Weltgeist als Lachs“ ist 2021 bei Matthes & Seitz erschienen.