Fundstück zur Wahl: „Mit dem Stimmzettel den Tod weglegen“
In seinem Hauptwerk Masse und Macht betont Elias Canetti die Transformationsleistung von Wahlen: Wo früher Heere gegeneinander kämpften, entscheidet heute die Mehrheit der Stimmen.
„Die Wahl des Abgeordneten ist im Prinzip den Vorgängen im Parlament verwandt. Als der beste unter den Kandidaten, als der Sieger gilt, wer sich als der Stärkste erweist. Der Stärkste ist der, der die meisten Stimmen hat. Würden die 17562 Menschen, die für ihn sind, als geschlossenes Heer gegen die 13204 antreten, die seinem Gegner folgen, sie müßten den Sieg erringen. Auch hier soll es nicht zu Toten kommen. Immerhin ist die Unverletzlichkeit der Wähler nicht so wichtig wie der Stimmzettel, die sie abgeben und die den Namen ihrer Wahl enthalten. Die Beeinflussung der Wähler bis zu dem Augenblick, in dem sie sich auf den Namen ihrer Wahl endgültig festlegen, ihn niederschreiben oder bezeichnen, mit so ziemlich allen Mitteln ist erlaubt. Der gegnerische Kandidat wird verhöhnt und dem allgemeinen Haß auf jede Weise preisgegeben. Der Wähler kann ich in vielen Wahlschlachten herumtummeln; ihre wechselnden Schicksale haben für ihn, wenn er politisch orientiert ist, den größten Reiz. Aber der Moment, in dem er dann wirklich wählt, ist beinahe heilig; heilig sind die versiegelten Urnen, die die Wahlzettel enthalten; heilig der Vorgang des Zählens. Das Feierliche in all diesen Verrichtungen entstammt dem Verzicht auf den Tod als Instrument der Entscheidung. Mit jedem einzelnen Zettel wird der Tod gleichsam weggelegt. Aber was er bewirkt hätte, die Stärke des Gegners, wird in einer Zahl gewissenhaft verzeichnet. Wer mit diesen Zahlen spielt, wer sie verwischt, wer sie fälscht, läßt den Tod wieder ein und ahnt es nicht. Begeisterte Kriegsliebhaber, die sich über Stimmzettel gern lustig machen, geben damit nur ihre eigenen blutigen Absichten zu. Wahlzettel wie Verträge sind für sie ein bloßer Fetzen Papier. Daß sie nicht in Blut getaucht sind, erscheint ihnen verächtlich, ihnen gelten nur Entscheidungen durch Blut.“
Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt am Main und Wien (Büchergilde Gutenberg) 1978 (Erstveröffentlichung: 1960). S. 217/218
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Abstand halten!
In seinem Hauptwerk „Masse und Macht“ beschreibt Elias Canetti die menschliche „Berührungsfurcht“ — und lässt die Folgen der Corona-Krise in einem neuen Licht erscheinen. Ein Denkanstoß von Svenja Flaßpöhler.

Berührungsfurcht
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Canetti und die Macht
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Elite, das heißt zu Deutsch: „Auslese“
Zur Elite zählen nur die Besten. Die, die über sich selbst hinausgehen, ihre einzigartige Persönlichkeit durch unnachgiebige Anstrengung entwickeln und die Massen vor populistischer Verführung schützen. So zumindest meinte der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883–1955) nur wenige Jahre vor der Machtübernahme Adolf Hitlers. In seinem 1929 erschienenen Hauptwerk „Der Aufstand der Massen“ entwarf der Denker das Ideal einer führungsstarken Elite, die ihren Ursprung nicht in einer höheren Herkunft findet, sondern sich allein durch Leistung hervorbringt und die Fähigkeit besitzt, die Gefahren der kommunikationsbedingten „Vermassung“ zu bannen. Ortega y Gasset, so viel ist klar, glaubte nicht an die Masse. Glaubte nicht an die revolutionäre Kraft des Proletariats – und wusste dabei die philosophische Tradition von Platon bis Nietzsche klar hinter sich. Woran er allein glaubte, war eine exzellente Minderheit, die den Massenmenschen in seiner Durchschnittlichkeit, seiner Intoleranz, seinem Opportunismus, seiner inneren Schwäche klug zu führen versteht.
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