Iris Murdoch und die Aufmerksamkeit
Nur zu gern verharrt der Mensch bei sich selbst. Versteift auf eigene Bedürfnisse, bleibt ihm seine Umwelt fremd. Iris Murdoch suchte dieser Tendenz mit ihrem Konzept der Aufmerksamkeit etwas entgegenzusetzen. Über eine Moralphilosophie, die auch heute noch ein Gegenprogramm zu Ich-Bezogenheit und Werterelativismus bietet.
Moral kann bloß Ausdruck von Empfindung sein, niemals aber von Tatsachen. So postuliert es der britische Philosoph A. J. Ayer 1936, der als einer der wichtigsten Vertreter des in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitverbreiteten logischen Empirismus gilt. Denn moralische Urteile ließen sich nicht in wertfreie, rein empirische Aussagen übersetzen und seien deshalb faktisch bedeutungslos. Für die irische Philosophin und Schriftstellerin Iris Murdoch könnte die Moralphilosophie damit kaum weiter auf Abwege gekommen sein. Als sie kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ihr Studium der „Greats“ – eine Ausbildung in der klassischen Altertumswissenschaft und Antiken Philosophie – in Oxford beginnt, ist die dort gängige Philosophie reduziert auf reine Begriffsanalyse und zugleich einem szientistischen Weltbild verschrieben, das Murdoch für zutiefst befremdlich hält. Die Philosophie scheint den Grausamkeiten der Zeit damit kaum etwas Substanzielles entgegenzusetzen und kann in ihrer so reduzierten Form keine Antwort mehr auf die essenzielle Frage geben: Was heißt es, ein guter Mensch zu sein? Murdoch hingegen macht sie zum Zentrum ihrer Ethik und findet die Antwort im Konzept der Aufmerksamkeit, verstanden als eine Hinwendung zu unseren Mitmenschen und der moralischen Wirklichkeit.
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Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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