„Suzume“ – Mythos als Traumabewältigung
Ein lebendiger Stuhl mit drei Beinen, eine Naturkatastrophe und der frühe Tod einer Mutter. Das sind nur ein paar der Komponenten, aus denen der japanische Regisseur Makoto Shinkai Suzume einen „modernen Mythos“ kreiert hat. Der Film kommt nun in die deutschen Kinos.
Über Jahrhunderte haben Menschen Phänomene, die sie nicht verstanden, mit Mythen erklärt, also mit großen, über Generationen weitergegebene Erzählungen, die auf anschauliche Weise die Welt begreifbar machen. Doch mit der sich im 18. Jahrhundert durchsetzenden Aufklärung wurden die fantasievollen Narrative zunehmend als unwissenschaftlicher Klamauk abgetan und hatten nicht mehr den Anspruch als Erklärungsmittel für die Welt zu dienen. Als wahr galt, was man mit Messinstrumenten und durch Mathematik beweisen konnte. Mythen wurden dagegen in die Kunst oder die Kinderstuben verbannt. Doch dass der Mythos nicht nur immer schon Aufklärung ist, wie Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung diagnostizieren, sondern hinsichtlich einer emotionalen Aufarbeitung von traumatischen Erlebnissen viel wirkungsmächtiger ist als jede wissenschaftliche Analyse, zeigt der neue Film Suzume von Makoto Shinkai.
Der Anime, der bei der diesjährigen Berlinale im Wettbewerb teilnahm und neben den kammerspielartigen Autorenfilmen als einzige groß angelegte Erzählung hervorstach, schildert die Geschichte der jungen Suzume, einem jugendlichen Schulmädchen aus einer kleinen Stadt an der japanischen Küste. Weil ihre Eltern bei dem Erdbeben und dem folgenden Tsunami von 2011 gestorben sind, wächst Suzume seitdem bei ihrer Tante auf. Eines Tages trifft sie auf dem Weg zur Schule einen jungen Mann, der ihr Leben verändern wird. Denn Sōta ist besonders. Er ist Türschließer. Seine Aufgabe besteht darin, Türen, die über die vier japanischen Inseln verteilt sind und eine Verbindung zu einer Parallelwelt öffnen, zu schließen, um so das Herausbrechen eines riesigen Dämons in Gestalt eines Wurms zu verhindern. Denn bricht das Ungetüm aus und stürzt auf die Erde, kommt es zu einem Erdbeben. Nur auserwählte Menschen können den Dämon sehen, und zu Sōtas Überraschung gehört Suzume auch dazu.
Mythologie in neuem Gewand
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Ritual und Reinigung
In Wim Wenders neuem Film Perfect Days über eine japanische Reinigungskraft legt der Regisseur den Fokus auf die oft vergessene Seite der Gewohnheit und ist dafür nun für einen Oscar nominiert.

„Nope“: Überleben in der Gesellschaft des Spektakels
Mit „Nope“ bringt der amerikanischen Komiker und Regisseur Jordan Peele einen der spannendsten und visuell anziehendsten Filme dieses Sommers in die Kinos. Hinter dem so humorvollen wie beklemmenden Szenario verbirgt sich eine Kritik an der Gesellschaft des Spektakels.

Prigoschin lebt
Jewgeni Prigoschin mag tot sein. Doch sein Mythos ist lebendiger denn je und könnte für Putin gefährlich werden. Wie wirkt sich der Post-mortem-Kult auf das innerrussische Kräfteverhältnis aus?

Ruben Östlund: „Jeder Film verändert die Welt“
Ruben Östlund, zweimaliger Gewinner der Goldenen Palme bei den Filmfestspielen von Cannes, beweist mit jedem seiner Filme seine Vorliebe für Gedankenexperimente. Der Regisseur von Triangle of Sadness, der derzeit in den Kinos läuft, spricht mit uns über seine Inspirationsquellen, seine philosophischen Einflüsse und sein Verständnis von Kunst.

Natur als Monster
Was können wir ausgerechnet von einem japanischen Atombombenmonster über die Rettung des Planeten lernen? In der westlichen Hollywoodversion wird Godzilla besiegt. In den meisten japanischen Originalfilmen überlebt das Ungeheuer. Denn Menschen müssen die Natur ins Gleichgewicht bringen, nicht zähmen und zerstören.

Experimentelle Philosophie – Der Stuhl muss brennen
Die experimentelle Philosophie will neue Antworten auf alte Fragen finden – indem sie einfach mal bei Nichtphilosophen nachfragt. Drei Experimente, die das Denken verändern: über Moral, Identität und die Philosophie selbst.

Mutter, Vater, Mutter
In Großbritannien wurden acht Kinder geboren, die jeweils drei Elternteile haben.

Das überforderte Paar
Guter Sex, Erlebnisreichtum, emotionale Intimität: Die moderne Beziehung ist überfrachtet mit Erwartungen, die kaum zu erfüllen sind. Gleichzeitig bildet das Paar, das auf Kontinuität angelegt ist, einen Gegenentwurf zum kapitalistischen Imperativ der Flexibilität. Ist es gerade deshalb wegweisend?
