Ruben Östlund: „Jeder Film verändert die Welt“
Ruben Östlund, zweimaliger Gewinner der Goldenen Palme bei den Filmfestspielen von Cannes, beweist mit jedem seiner Filme seine Vorliebe für Gedankenexperimente. Der Regisseur von Triangle of Sadness, der derzeit in den Kinos läuft, spricht mit uns über seine Inspirationsquellen, seine philosophischen Einflüsse und sein Verständnis von Kunst.
Was hätte ich an seiner Stelle getan? Das ist die Frage, mit der uns der schwedische Filmemacher Ruben Östlund immer wieder konfrontiert. Zweimal hat er bei den Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme gewonnen, zunächst 2017 für The Square, in dem er mit bissigem Humor nicht nur die zeitgenössische Kunstszene, sondern vor allem den Zerfall von Vertrauensbeziehungen in individualistischen Gesellschaften an den Pranger stellt. Vertrauen und Angst waren auch die Triebfedern von Snow Therapy aus dem Jahr 2015, in dem Östlund die Auswirkungen eines unerwarteten Ereignisses auf den Zusammenhalt einer Familie verfolgt und sich fragt, was unsere vermeintlich unerschütterlichen Grundsätze im Fall von „höherer Gewalt“ wert sind: Als eine Lawine auf die Terrasse eines Skigebiets zu stürzen scheint, flüchtet der Familienvater in Sicherheit, lässt Frau und Kinder zurück – und taucht dann aus einer einfachen Pulverschneewolke auf. Der Regisseur, ein Liebhaber von Paradoxien und Aporien, sagte mir in einem früheren Gespräch, dass er sich „vor allem als Beobachter“ wahrnehme: „Ich bin ein Junge, der mit einem Stück Holz vor einem Ameisenhaufen steht und darin herumstochert. Der Ameisenhaufen ist die Gesellschaft, mein Holzstück ist meine Kamera. Ich rege mich nicht mehr auf als ein Insektenforscher, der einen Löwen beobachtet, der einen Büffel verschlingt. Ich begnüge mich damit, zuzuschauen.“
Dieser einzigartige, luzide und belustigte Blick eines schelmischen „Jungen“, der bemüht ist, unsere ethischen Überzeugungen zu erschüttern, brachte ihm dieses Jahr eine zweite Goldene Palme für Triangle of Sadness ein. Dieser Spielfilm, dessen Rohheit – und bisweilen Grausamkeit – die Zuschauer spaltete, schreckt vor keiner Übertreibung und erst recht vor keiner Unanständigkeit zurück. In drei Kapiteln wechselt er gekonnt von Gesellschaftssatire zu philosophischer Fabel: Das Influencer-Paar Carl und Yaya streitet sich über den Wert des Geldes; die beiden Liebenden finden sich auf einer Luxusjacht, die von einem marxistischen Kapitän gesteuert wird, von Superreichen umgeben; durch einen Schiffbruch landen sie auf einer Insel, wo sich die sozialen Rollen verkehren. Ruben Östlund hat Freude daran, seine Filme mit Referenzen zu spicken und erschafft imaginäre oder dystopische Situationen, die manchmal extrem sind, denen es aber nie an Komplexität mangelt. Er zeigt damit seine Vorliebe für Gedankenexperimente, die er vor allem in den Rahmen der Geisteswissenschaften einbettet, um unsere moralischen Intuitionen auf die Probe zu stellen. Er selbst sagt, dass er „Philosophie und Soziologie als Hobby“ betreibe – und in der Tat ist seine Neugier für diese Fächer ansteckend. Dies beweist er erneut bei einem Besuch in Paris, kurz vor der Veröffentlichung seines neuen Films.
Ihr neuer Film heißt Triangle of Sadness. Worauf bezieht sich dieses „Dreieck“? Auf die Dreiecksbeziehung zwischen Ihren Figuren?
In der Modeindustrie bezeichnet dieses Dreieck zunächst die Falte zwischen den Augenbrauen, auch Sorgenfalte genannt – eine „Sorge“, die man mit einem kleinen chirurgischen Eingriff „korrigieren“ kann. Darüber hinaus gibt es tatsächlich eine Dreiecksbeziehung aus Begehren und Rivalität zwischen den Hauptfiguren Yaya, Carl und Abigail. Man könnte auch meinen, dass das Dreieck auf die drei Kapitel verweist, aus denen der Film besteht – der Streit zwischen Yaya und Carl über Geld, die Kreuzfahrt auf der Yacht und der Schiffbruch auf der Insel.
Wie sind Sie auf die Idee zu dieser Fabel gekommen?
Als ich meine Frau kennenlernte, arbeitete sie als Modefotografin – und tut es immer noch. Ich interessierte mich sehr für diesen Beruf, über den sie mir von innen berichten konnte. Die Models kommen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten. Eines haben sie jedoch gemeinsam: Schönheit ist für sie zu einer Währung geworden. Weil sie in der genetischen Lotterie gewonnen haben, weil sie „schön“ sind, können sie mittels dieser Währung in der Gesellschaft aufsteigen – einige der Models kommen tatsächlich aus der Arbeiterklasse. Die Idee kam mir im Zuge der #metoo-Bewegung. Ich dachte, dass es interessant sein könnte, den wirtschaftlichen Aspekt in die Diskussionen über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen einzubringen: die Rolle des Mannes als wirtschaftlicher Ernährer und die Rolle die der Körper der Frau als Tauschwert im Bereich des Sexuellen spielt. Denn der Tauschwert, den unser Aussehen darstellt, ist heute unser Kapital.
Vertrauen, vor allem fehlendes, ist eines der wiederkehrenden Themen in Ihren Filmen. Ist Vertrauen durch den großen Wert, der heutzutage auf den äußeren Schein gelegt wird, unmöglich geworden?
Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, die ich von einem jungen Mann gehört habe. Er lebte in Ostberlin, bevor die Mauer fiel. Nach dem Mauerfall reist er in die westliche, liberale und kapitalistische Welt. Dort sieht er eine Werbetafel für eine Parfümmarke. Eine schöne nackte Frau liegt darauf, an ihrer Seite ein Flakon. Plötzlich ist seine Sexualität wie ausgelöscht, weil er versteht, dass die Annäherung an eine Frau, hier zwangsläufig einen wirtschaftlichen Aspekt hat. Es findet ein Austausch von Werten statt. Die marxistische Theorie sagt, dass diese Art von kapitalistischer Gesellschaft die Menschen entfremdet. Je individualistischer, wirtschaftlich unabhängiger wir werden – wozu uns der Kapitalismus verhilft – , desto einsamer werden wir auch. Der schwedische Historiker Lars Trägårdh hat sich mit dem Gesellschaftsvertrag und der Beziehung zwischen Zivilgesellschaft und Staat befasst. Er erklärt unser Verhalten über das Prisma des Vertrauens, indem er eine Pyramide zeichnet: An der Spitze steht der Staat. In der einen Ecke steht das Individuum, in der anderen die Familie. Auf diese Weise schematisiert er die drei Winkel des Vertrauens der Menschen. Anschließend platziert er drei Länder – Deutschland, Schweden und die Vereinigten Staaten – innerhalb dieses Modells. Die Vereinigten Staaten liegen für ihn zwischen dem Individuum und der Familie. Dort liegt das Vertrauen der Amerikaner. Die Deutschen setzen ihr Vertrauen zwischen die Familie und den Staat. Die Schweden, die in diesem Modell eine Art Extrem darstellen, setzen ihr Vertrauen in den Staat und in das Individuum. Nicht in die Familie. Wenn Sie also einen starken Staat und wirtschaftlich freie und unabhängige Individuen haben, schaffen Sie auch Einsamkeit.
Sie sind Liebhaber von Gedankenexperimenten. Kann man sagen, dass die Jacht, auf der Yaya und Carl in Triangle of Sadness an Bord gehen, eine Mikrogesellschaft ohne Staat ist?
Das Schiff ist zwar eine geschlossene Gesellschaft, aber es herrscht dennoch eine sehr starke Hierarchie. Die Filipinos und die anderen fast unsichtbaren Besatzungsmitglieder werden nicht so gut bezahlt wie die Westler, die an Deck im Dienste der Superreichen arbeiten. Sie verdienen extrem hohe Trinkgelder: bis zu 125.000 Euro für zehn Tage Kreuzfahrt, die sie unter etwa 30 Personen aufteilen. Zuletzt kommen die Passagiere, zu denen man einfach nicht nein sagen kann. Wenn sie ein Einhorn wollen, besorgen Sie ihnen ein Einhorn! Es ist eine Form von Exzess, die jeden deprimieren würde.
Die Fortsetzung der Reise hält Überraschungen bereit: Die Schiffbrüchigen finden sich auf einer Insel wieder und sind gezwungen, eine neue Gesellschaft ohne Geld zu erfinden. Diese Utopie erinnert an literarische Fabeln, in denen Herr und Sklave die Rollen vertauschen.
Viele Autoren haben tatsächlich derartige Modelle erschaffen, um die Machtstrukturen auf einer Insel umzukehren. Dies gilt auch für Filmemacherinnen wie die italienische Regisseurin Lina Wertmüller, die in ihrem Film „Hingerissen von einem ungewöhnlichen Schicksal im azurblauen Meer im August“ (Travolti da un insolito destino nell’azzurro mare d’agosto, 1974) die Beziehung zwischen einer reichen Kapitalistin und einem kommunistischen Matrosen auf einer Jacht und später auf einer Insel zeigt. Indem sie auf diese Weise die Struktur der sozialen Hierarchien auf den Kopf stellt, kann man dann beobachten, wie sich die Machtverhältnisse neu formieren und welche Strategien die Teilnehmer in diesem Schachspiel verfolgen.
Unter Ihren Quellen vermutet man den niederländischen Historiker Rutger Bregman, der 2014 Utopien für Realisten verfasst hat. In Ihrem Film liegt sein Buch übrigens auf einem Liegestuhl im Hintergrund einer Szene.
Ich bin froh, dass Sie es gesehen haben. Es ist sogar ein russischer Oligarch, der es liest. Rutger Bregman hat mich bei der Arbeit an dem Film sehr inspiriert. Er bringt einen dazu, sich von einer rechten oder linken politischen Sichtweise zu entfernen. Es ist zum Beispiel interessant, von ihm zu erfahren, dass es die Vereinigten Staaten unter Nixon waren, die vorhatten, ein bedingungsloses Grundeinkommen für Millionen von Amerikanern zu testen.
Wie groß ist Ihr Interesse an Marx, der offenbar auch zu Ihrer Lektüre gehört?
Meine Mutter und mein Vater kamen beide aus dem linken 68er-Bewegung. Marx, Lenin und weitere politischen Ikonen dieses Schlags waren während meiner Erziehung sehr präsent. Meine Mutter, die sich immer noch als Kommunistin sieht, hatte auch ein großes Interesse an der Soziologie. Ich selbst habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass der Autor des Kommunistischen Manifests auch einer der Erfinder der Soziologie war, wenn man seine Theorien über Klassen, die Struktur der Gesellschaft und die politische Ökonomie betrachtet. Die Soziologie ist ein wunderbares Fach, weil sie den Kontext in den Vordergrund stellt, anstatt mit dem Finger auf einzelne Personen zu zeigen. Unsere Gesellschaften hingegen sind besessen von der Fiktion des liberalen Individuums, das sie entweder für alle Übel verantwortlich machen oder eben zu Helden stilisieren... Dieser Glaube an das freie Individuum, das allein für seine Entscheidungen verantwortlich ist, stammt aus der Reagan-Thatcher-Ära. Die Linke stellt reiche Menschen als egoistisch und oberflächlich und arme Menschen als großzügig und authentisch dar. Der Film versucht, dieses vereinfachte Menschenbild ins Wanken zu bringen, indem er darauf hinweist, dass nicht zuletzt unsere Position innerhalb einer Struktur die Art und Weise beeinflusst, wie wir handeln.
Ist es diese Ideologie, die uns bequem die Realität verleugnen lässt – von den Marxisten „falsches Bewusstsein“ bezeichnet –, die Triangle of Sadness aufdeckt?
Ich bin kein Experte, Philosophie und Soziologie betreibe ich als Hobby. Aber ich glaube, dass die Soziologie genauso wirksam wie die Kunst sein kann, wenn es darum geht, sich das menschliche Verhalten zu vergegenwärtigen. Ein soziologisches Experiment kann zu eine wahrhaften Offenbarung führen. Ich denke da zum Beispiel an Stanley Milgrams Experiment über Gehorsam oder Solomon Aschs Test zu Konformismus. Ich erinnere mich, dass meine Mutter, die Lehrerin war, mir als Teenager erzählte, dass sie diesen Test mit ihren Schülern durchführte. Es geht darum, anzugeben, welche von mehreren Linien die längste ist. Die Probanden antworten zunächst oft richtig, machen aber, sobald sie unter dem Einfluss der anderen stehen, Fehler bis hin zu offensichtlichen Widersprüchen. „Ich verfolgte damit ein pädagogisches Ziel: Ich wollte den Schülern zeigen, wie groß die Macht der Gruppe über den Einzelnen ist“, erklärte mir meine Mutter.
Was haben Sie aus Ihrer Erziehung mitgenommen?
Ich erinnere mich, dass ich in einer Gemeinschaft von Fischern auf der kleinen Insel Styrsö an der schwedischen Westküste aufgewachsen bin. In den 1970er Jahren war es bereits sehr umstritten, Kommunist zu sein. Wenn ich einen Freund mit nach Hause brachte, drehte ich die Bücher in der Bibliothek um – Lenin, Marx... Ich wollte die politischen Neigungen meiner Mutter nicht offen zur Schau stellen. Die Überlegungen, über die Art der Gesellschaft, in der wir leben wollen, haben ihr Leben jedoch bis heute bereichert. Mit fast 80 Jahren liest und schreibt sie immer noch politische Artikel mit der gleichen Kraft wie in ihrer Jugend.
Und wie sind Sie dann zum Film gekommen?
Ich habe mit Filmen über Tiefschneefahren, also das Skifahren abseits der Pisten, angefangen. Das war eine gute Schule: Mich interessierte das, was vor der Kamera passierte, und nicht so sehr das „Filmemachen“. Ich wollte das Gefühl und die Schönheit des Skifahrens einfangen. Irgendwann hatte ich genug von den Skigebieten in den Alpen und bewarb mich an einer Filmschule in Göteborg, der Akademin Valand. Alle Studenten waren Filmliebhaber, ich kam aus einem ganz anderen Umfeld. Ich dachte, es wäre meine Berufung Dokumentarfilmregisseur zu werden. Aber dann traf ich auf Enthusiasten, die von Bo Widerberg und Roy Andersson inspiriert waren, die wiederum von Godard und der französischen Nouvelle Vague beeinflusst waren. Sie änderten meine Einstellung, da sie nicht zwischen Dokumentar- und Spielfilm unterschieden.
Marx sagt über die Philosophen, dass sie „die Welt nur verschieden interpretiert“ haben und dass es nun darum gehe, sie zu verändern. Ist das auch die Rolle des Filmemachers?
Das Problem besteht gerade andersherum: Es gibt so viele Filmemacher, und jeder Film verändert die Welt!
Wirklich?
Ja – ganz gleich, ob es sich um Science Fiction oder Dokumentarfilm handelt. Selbst Werbefilme verändern Ihre Sicht und Ihr Verhalten als Verbraucher. Doch damit Ihre Filme einen Einfluss auf die Welt haben, müssen Sie erfolgreich sein, sonst werden sie nicht gesehen. Mich hat die die Frage interessiert, woher der Geschmack kommt und wie er sich bildet. Ich habe also folgendes Experiment gemacht: Ich bin in ein All-Inclusive-Hotel gegangen, ein Komplex, in dem alles kostenlos ist, sobald man den Eintritt bezahlt hat. Ob ich dann in ein italienisches, mexikanisches oder asiatisches Restaurant ging – alles schmeckte gleich, es war eine schreckliche Erfahrung. Jede Einzigartigkeit wurde ausgemerzt, das Geschmacksspektrum war sehr beschränkt. Dennoch begann ich allmählich, das, was ich aß, zu mögen. Schließlich wollte ich mehr. Unser Geschmack ändert sich je nach dem, was uns vorgesetzt wird. Das Risiko von Monopolen besteht darin, dass sie die Bandbreite einschränken, etwa wenn die Tech-Riesen für uns Inhalte im Internet auf der Grundlage von Algorithmen auswählen. Besteht denn der Sinn und der Reichtum des Lebens nicht darin, ein möglichst breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten und Emotionen zu ermöglichen? Wir müssen uns gegen die Monotonie wehren, so komfortable sie uns auch erscheinen kann.
Wie widerstehen Sie dem Pessimismus?
Es wäre wirklich dumm zu sagen, dass alles immer schlimmer wird. Ich weiß, dass die Linke gerne denkt, dass die kapitalistische Welt abscheulich ist. Der Kapitalismus hat auch Gutes bewirkt, indem er die Lebenserwartung erhöht, die Kindersterblichkeit gesenkt und viele von uns reicher gemacht hat. Aber die Medien und die sozialem Netzwerke mögen keine Komplexität. Es geht weniger darum, zu informieren, als vielmehr darum, Aufmerksamkeit zu erregen, indem man Konflikte inszeniert. Dieses menschenfeindliche Bild einer Welt in der Krise verdeckt vollkommen, dass Menschen auch auf ganz wunderbare Weise zusammenarbeiten.
Noam Chomsky, den einer Ihrer Charaktere zitiert, führte eine umfassende Kritik an den Fehlern des Mediensystems durch und an dem, was er als „Manufacturing Consent“, also dem Herstellen einer einheitlichen Meinung, bezeichnet.
Altmodische Kommunisten wie meine Mutter neigen dazu, an das Stereotyp des bösen Fabrikbesitzers zu glauben. Aber in dem Text von Chomsky, den ich zitiere, stellt er fest, dass niemand, auch nicht der schlimmste Oligarch, sich im Spiegel betrachtet und feststellt: „Ich bin ein Monster“. Er findet ein Motiv für seine Handlungen, wie alle anderen Menschen auch. Chomsky lädt uns dazu ein, die Idee von Gut und Böse über Bord zu werfen, denn auch das „Böse“ existiert nur in Abhängigkeit von den Möglichkeiten, die das System bietet.
Haben Sie durch das Filmen von Menschen, die einer „höheren Gewalt“ ausgesetzt sind, eine Art Anthropologie entwickelt?
Ich habe oft gehört, dass ich mich für Anthropologie interessiere, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich den Unterschied zur Soziologie richtig verstanden habe. Ich interessiere mich für ethische Dilemmata, in denen ein Mensch, der a priori weder gut noch böse ist, im Angesicht einer bestimmten Situation zum falschen Handeln getrieben werden kann. Deshalb interessieren mich Kriminalserien so wenig, weil sie auf extremen Verhaltensweisen und Klischees beruhen – ein Psychopath tötet eine junge Frau, und das Problem ist gelöst: Er muss ins Gefängnis oder sich behandeln lassen. Wir identifizieren uns gerne mit guten Gedanken und guten Taten, aber ich hüte mich davor, gute oder schlechte Charaktere zu erschaffen. Ich ziehe es vor, den Zuschauer in eine Ecke zu drängen und ihn dazu zu bringen, sich selbst Fragen zu stellen: Was würde ich anstelle der Figur tun?
Was ist Ihr nächstes Projekt?
Er geht von einem Vergleich aus, den ich von Neil Postman übernommen habe, einem amerikanischen Professor, der an der New York University Kommunikationswissenschaften und „Medienökologie“ lehrte. In Amusing Ourselves to Death (1985, deutsch: Wir amüsieren uns zu Tode, Fischer) vergleicht er George Orwells 1984 mit Aldous Huxleys Schöne neue Welt. Ersteres beschreibt eine totalitäre Gesellschaft, die die Menschen kontrolliert; letzteres eine Gesellschaft, in der die Menschen durch eine Unterhaltungsindustrie kontrolliert werden, die sie aber lieben. Neil Postman schließt mit der Feststellung, dass wir nicht im Jahr 1984 gelandet sind, sondern in der Schönen neuen Welt, in einer Gesellschaft, in der die totalitäre Unterdrückung die Form einer Unterhaltungssucht annimmt. Seine Intuition ist richtig: Wir sind heute völlig abhängig von der Jagd nach Dopamin, während wir frenetisch auf unseren mobilen Geräten „scrollen“, von denen wir uns nicht trennen können. Der Arbeitstitel dieses Projekts lautet: „Das Unterhaltungssystem hat einen Schaden.“ Der Film spielt in einem Flugzeug, das über 15 Stunden lang in der Luft ist. Kurz nach dem Start verkündet das Bordpersonal, dass das Unterhaltungssystem leider einen Schaden hat. Wir werden sehen, was die Menschen tun, wenn sie mit ihren Gedanken allein gelassen werden.
Und?
Es ist schrecklich! Es wurde einmal ein Experiment durchgeführt, bei dem Freiwillige in einem Raum saßen. Ihre einzige Aufgabe war, nichts zu tun. Die Testpersonen empfanden dies als unerträglich. Daraufhin gaben die Forschenden den Probanden die Möglichkeit, einen Knopf zu drücken und sich selbst einen schmerzhaften, aber ungefährlichen Elektroschock zu geben. Sie saßen also da, allein mit ihren Gedanken. Sie mussten den Knopf nicht drücken. Dennoch betätigten mehr als 40% der Personen den Knopf und versetzten sich selbst einen elektrischen Schlag, um den Zustand der Untätigkeit zu durchbrechen. Unterhaltung lähmt uns, aber unsere eigenen Gedanken machen uns Angst.
„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen“, schrieb Blaise Pascal. Warum sollte man das Echte suchen und die Unterhaltung ablehnen?
Alles hängt davon ab, ob jemand einen Vorteil daraus zieht, dass wir wie gelähmt vor unseren Bildschirmen sitzen. Es ist keine Verschwörungserzählung, das zu glauben – so wird in einer Aufmerksamkeitsökonomie Macht ausgeübt. Aber es ist eine gute Frage: Wenn die Menschen glücklich sind, warum sollte man es ihnen dann nehmen, sich bei Gladiatorenkämpfen zu vergnügen? Es ist jedoch fraglich, ob diese Menschen wirklich glücklich oder zumindest glücklicher sind, als wenn sie von ihrer Sucht entwöhnt wären. Ein Drogenentzug ist ein langer Weg.
Wie sähe ein wirklich gutes Leben aus?
Wir alle wissen, dass Konsum sehr befriedigend ist. Aber wenn Sie die Anzahl der Konsumenten und die Masse des Konsums reduzieren wollen, müssen Sie Kreativität hinzufügen. Als die Schiffbrüchigen auf der Insel ihr Überleben gesichert haben und ihre Grundbedürfnisse erfüllt sind, beginnen sie, an der Wand einer Höhle zu malen. Einen Esel. Es entsteht ein Konflikt: Wer hat den besten Esel gemalt? Das Malen bereitet ihnen eine Freude, die wie ein Höhepunkt der Menschlichkeit erscheint. Sie hatten ein Erlebnis, das sie zu kommunizieren versuchen. Welches andere Tier kann diese Dimension des Daseins genießen und sich so sehr daran erfreuen, das Erlebte und die Tatsache, dass es am Leben ist, auszudrücken? •
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