Armen Avanessian: „Wir müssen unsere Teilhabe an Konflikten verstehen“
Anstatt Konflikte zu lösen, müssen wir sie erst einmal freilegen und unsere eigene Rolle in ihnen erkennen: Armen Avanessian über sein Buch Konflikt, fatale Harmonie-Illusionen und die Komplexität des Krieges.
Herr Avanessian, was interessiert Sie am Thema Konflikt?
Quer durch alle politischen Lager wird im Moment konstatiert, dass wir konfliktunfähig sind: Die Rechten sind identitär, die Linken in ihrer Identitätspolitik gefangen. Die Gesellschaft werde immer polarisierter, weil wir uns mit anderen Meinungen und Haltungen immer weniger auseinandersetzen können und wollen. Gleichzeitig wird der Begriff Konflikt inflationär und damit auch völlig unscharf verwendet. Streit ist Konflikt, Krieg ist Konflikt. Von unseren Genen bis zu unserer Kultur ist alles irgendwie Konflikt. Aber durch diese Annahme übersieht man das Wesentliche des Phänomens.
Was unterscheidet den Konflikt von Streit, Konfrontation, Krieg, Auseinandersetzung? Was macht den Konflikt aus?
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Camille Froidevaux-Metteries Essay hilft, Judith Butlers schwer zugängliches Werk zu verstehen. In ihm schlägt Butler nichts Geringeres vor als eine neue Weise, das Subjekt zu denken. Im Vorwort zum Beiheft beleuchtet Jeanne Burgart Goutal die Missverständnisse, die Butlers berühmte Abhandlung „Das Unbehagen der Geschlechter“ hervorgerufen hat.
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