Das Denken der Inuit im Angesicht des Klimawandels
In Kanada werden immer mehr Naturschutzgebiete von indigenen Gemeinschaften in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern verwaltet. Ein Gespräch mit der Inuit-Forscherin und Pädagogin Shirley Tagalik, die darin einen wichtigen Hebel im Kampf gegen den Klimawandel sieht.
Im Oktober letzten Jahres verwüstete ein Großbrand Scotty Creek, die erste Beobachtungs- und Schutzstation in einem kanadischen Waldgebiet, die von einer indigenen Gemeinschaft in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern betrieben wurde. Werden solche Formen der Zusammenarbeit in Kanada immer üblicher?
Die Scotty Creek Beobachtungsstation wurde von Vertretern der Gemeinschaft Łı́ı́dlı̨ı̨ Kų́ę́ betrieben, eine der First Nations in Kanada. First Nations bezeichnet die Gesamtheit der indigenen Völker, die südlich der arktischen Baumgrenze leben. Als Inuit kann ich also nicht viel darüber sagen [Inuit leben nördlich der Baumgrenze und sind keine First Nation; Anmerkung der Redaktion]. Aber unbestreitbar entwickeln sich diese Formen der Zusammenarbeit zwischen Indigenen und Wissenschaftlern. Die indigenen Völker werden endlich als Experten für ihr eigenes Land anerkannt und konsultiert.
Sind Brände wie der von Scotty Creek eine Folge des Klimawandels?
Waldbrände sind ein natürliches Phänomen – es ist ein Methode der Natur, den Wald zu säubern und wiederherzustellen. Die Scotty Creek Station wurde in einem sehr anfälligen Gebiet errichtet; ein Brand kommt also nicht unerwartet. Jenseits der nördlichen Baumgrenze hingegen treten solche Ereignisse nicht so häufig auf wie in bewaldeten Gebieten. Dennoch sind die Inuit häufig mit Tundrabränden konfrontiert. Heute treten diese Ereignisse aufgrund des Klimawandels häufiger auf. Wenn wir mit neuen, aggressiven Stufen des Klimawandels leben müssen, müssen wir lernen, weit vorausschauender zu planen, als es unsere derzeitigen Denkweisen erlauben. Die meisten Wissenschaftler reagieren auf die Gegenwart und berücksichtigen die Zukunft, die die Inuit vor allem in den kommenden Generationen verkörpert sehen, nicht oder nur unzureichend. Die Inuit haben einen Begriff – qanuqturunangniq –, der ein sehr tiefes analytisches Denken bezeichnet, das darin besteht, über einen sehr langen Zeitraum hinweg nach den besten Lösungen zu suchen. Ältere Menschen würden sicherlich sagen, dass es den heutigen Generationen an dieser Fähigkeit mangelt und auch an ujjiqsuiniq, also der Art von genauer Beobachtung unserer Umwelt, die notwendig ist, um das qanuqturunangniq zu nähren.
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