Der Hund
Was den Menschen vom Tier unterscheidet? Anstatt weiter nach Differenzen zu suchen, konzentrieren wir uns an dieser Stelle auf philosophisch wegweisende Gemeinsamkeiten. Diesmal der Hund und die Frage nach der Beherrschung.
Als Heranwachsender hatte ich einen Hund. Einen Cockerspaniel namens Robby, schwarz, mit rotbrauner Zeichnung auf Schnauze und Pfoten sowie einem flammenden Fellfleck auf der Brust. Natürlich liebte ich Robby abgöttisch. Ich liebte es, wenn er mir das Gesicht abschleckte, ganz gleich, an welchem fremden Vierbeinergenital oder -anus er kurz zuvor noch geschnüffelt hatte. Und ich litt, wenn er mir aufgrund irgendeiner Verletzung seiner zarten Cockerspanielseele den haarigen Rücken zukehrte, wie ein Hund. Die Philosophieschule des Kynismus mag seit über 2000 Jahren ausgestorben sein; doch die vierbeinigen Nachfolger des Diogenes, der aufgrund seines schamlosen und asozialen Verhaltens als kýon („Hund“) beschimpft wurde, laufen bis heute millionenfach auf der Erde herum.
Fast die gesamte Grammatik der Gefühle − Liebe, Hass, Enttäuschung, Versöhnung − lernte ich von meinem Hund. Vor allem aber lernte ich von ihm alles über das Wesen der Macht. Wie die meisten Cocker rannte Robby begeistert sämtlichen Stöcken, Bällen und Frisbeescheiben hinterher, die ich in die Gegend schleuderte, nur um sie mir wedelnden Schwanzes vor die Füße zu legen. Ich glaube, er wäre selbst in die Hölle gerannt, wenn ich ihn mit einem beherzten „Hol das Stöckchen!“ dorthin geschickt hätte. In der Terminologie Georg Wilhelm Friedrich Hegels könnte man sagen: Ich war der Herr − und er war der Knecht.
So dachte ich zumindest. Heute frage ich mich nämlich, ob unsere Beziehung nicht sehr viel dialektischer war, als meine jugendliche Eitelkeit mich träumen ließ. Rannte Robby tatsächlich dem Stöckchen hinterher, weil ich es fortwarf – oder warf ich es umgekehrt fort, weil er es apportierte? Reagierte ich nicht auf jeden Stock, Stein und Ball, den er mir mit zitternden Lefzen vor die Füße legte, so konditioniert wie ein Pawlow’scher Käfigköter, nämlich indem ich den Gegenstand sofort mit einem bedingten Reflex von mir schleuderte? Musste mein Hund nicht glauben, dass er mich vorbildlich zum Stöckchenwerfen dressiert hatte?
Herrchen-Knecht-Dialektik
Ob Robby tatsächlich zu solch komplexen Denkleistungen in der Lage war, weiß ich nicht. Fest steht aber, dass es von seinen Vorfahren ziemlich raffiniert war, sich domestizieren zu lassen und so zu tun, als dienten sie hündisch dem Menschen. Denn letzten Endes profitierten jene Wolfs- und Schakalartigen, die sich erstmals an einen Steinzeitmenschen kuschelten, seine Zelte bewachten und seine Jagdbeute apportierten, von dieser Symbiose gewaltig: Wolfsrudel gibt es in Deutschland gerade einmal knapp zwei Dutzend. Wenn im Bayerischen Wald mal ein Goldschakal gesichtet wird, ist das eine Sensation. Demgegenüber gibt es hierzulande über elf Millionen Hunde, die ein Dach über dem Kopf haben, gegen Krankheiten geimpft und mit Spezialfutter verwöhnt werden: Lebensbedingungen, von denen ihre nicht anpassungswilligen Gattungsgenossen nur träumen können.
Hinzu kommt: Die Domestizierung des Hundes beginnt menschheitsgeschichtlich lange bevor man von einem „domus“ sprechen kann: Vor etwa 15 000 Jahren kam das Haustier, erst 5000 Jahre später kam – das Haus. Haben uns also womöglich erst die Hunde beigebracht, sesshaft zu werden? Haben sie uns darauf dressiert, für sie zu jagen, sie vor Kälte und Fressfeinden zu schützen, Hütten für sie zu bauen, und uns netterweise erlaubt − weil wir ja so lieb gucken und auch nicht leben sollen wie ein Hund −, auch noch ein Haus für uns selbst daneben zu errichten? Anders gesagt: Verbarg sich auch hinter der freundlich hechelnden Fassade von Robby letzten Endes nur eine berechnende, im wahrsten Sinne des Wortes kynische Vernunft? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Er war nicht mein Knecht und ich nicht sein Herr. Ich war bestenfalls das Herrchen. •
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