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Bild: Eyes as Big as Plates # Ron (Outer Hebrides 2019) © Karoline Hjorth and Riitta Ikonen

Essay

Der Wille zum Winterschlaf

Theresa Schouwink veröffentlicht am 18 Dezember 2020 7 min

Seit Mittwoch befinden wir uns im harten Lockdown. Schon Friedrich Nietzsche empfahl in Ecce homo angesichts akuter Bedrängnis: Gar nichts mehr machen. Einen Rat, den er mit dem Bild eines schlafenden Soldaten im Schnee illustrierte. Wie kann eine solche Ergebenheit ins Schicksal helfen, schwerste Krisen zu überwinden?

Was tun angesichts einer möglicherweise tödlichen Bedrohung? Friedrich Nietzsche rät: Wir sollten uns in unser Schicksal ergeben und aufhören zu kämpfen. Uns in den Schnee legen wie ein erschöpfter russischer Soldat und in Winterschlaf verfallen. Was für ein merkwürdiger Rat. Wird der erschöpfte Soldat nicht bald unter Schnee und Eis begraben liegen und sterben? Inwiefern kann „Aufgeben“ eine gute Strategie sein? Und warum empfiehlt sie ausgerechnet Nietzsche, der Denker des „Übermenschen“ und des „Willens zur Macht“? Zurzeit dürften sich viele Menschen höchst unfreiwillig in den Winterschlaf-Zustand versetzt fühlen: Seit Monaten steht die Gesellschaft mehr oder weniger still. Keine Flüge, keine Feiern, kaum soziale Kontakte, Wirtschaftseinbruch, bedrohte und verlorene Arbeitsplätze. Infolge des äußerlich auferlegten Stillstands fühlen viele sich auch innerlich wie gelähmt. Physisch und psychisch erschöpft, befallen von Corona-Blues und Zoom-Fatigue. Manch einer mag sich wie von einer Eisschicht umgeben fühlen. Die kalten Wintertemperaturen machen es nicht besser. Laut NAKO-Gesundheitsstudie ist die Zahl der Depressionen in Deutschland signifikant gestiegen.

Auch der nietzscheanische „Winterschlaf“ liest sich just wie die Beschreibung einer Depression. Aber welcher Therapeut rät bei einer Depression dazu, sich ihr einfach zu überlassen? Man muss doch vielmehr, so sagen uns die Verhaltenstherapeuten, in Bewegung kommen, sich mit seinen Problemen konfrontieren und sich desensibilisieren. Ähnliches sagt uns auch das neoliberale Paradigma: Krisen gilt es rasch zu überwinden – am besten sollte man an ihnen wachsen, mindestens aber durchhalten. Etwas nassforsch brachte es FDP-Chef Christian Lindner schon als 18-jähriger Jungunternehmer auf den Punkt: „Probleme sind nur dornige Chancen.“ Resilienz, so könnte man deshalb meinen, würde in der aktuellen Coronakrise bedeuten, die Wirtschaft möglichst schnell wieder hochzufahren und die Bevölkerung rasch durchzuimpfen. Die Zwischenzeit sollten Unternehmen dafür nutzen, sich für künftige Krisen zu wappnen, Marktlücken zu entdecken und Geschäftsstrategien zu entwickeln. Die Individuen sollten derweil ihre Skills und ihre Leistungsfähigkeit optimieren: eine neue Sprache lernen, joggen gehen, die Wohnung renovieren und eine steile Lernkurve ich Sachen Digitalisierung hinlegen.

 

Fatalismus als Heilmittel

 

„Er errät Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt schlimme Zufälle zu seinem Vorteil aus; was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker.“ – So beschreibt auch Nietzsche den „wohlgeratnen Menschen“ in Ecce homo. Nietzsche war und ist deshalb nicht zufällig anschlussfähig für Menschen mit Überlegenheitsdünkel und Härtekult – Nationalsozialisten, Pubertierende, Silicon-Valley-Transhumanisten. Und doch empfiehlt Nietzsche, der strikte Kohärenz für eine Krankheit verknöcherter Gemüter hielt, wenige Seiten später den russischen Fatalismus als einziges „großes Heilmittel“, das in akuter Bedrängnis hilft. „Überhaupt nicht mehr reagieren“ – Nichtstun, Abwarten und Zu-Hause-Bleiben erweisen sich auch in der Coronakrise im ganz buchstäblichen Sinne als beste Taktik, um die Krankheit einzudämmen. Jede übermäßige Aktivität verbreitet das Virus weiter. Auch auf anderer Ebene müssen wir uns gerade schützen vor dem, was andringt: den täglichen schlechten Nachrichten (Infektions- und Todeszahlen) und den sozialen Erwartungen und Forderungen. Im Zustand großer Erschöpfung verbraucht jede Reaktion nur weitere wertvolle Kraft. Vor allem, so wusste auch Nietzsche, zermürben die Ressentiments, Selbstvorwürfe und Schuldzuweisungen: Hätte ich doch …! Warum sind die anderen so …? Warum kann ich nicht …?

Nietzsche hielt sich deshalb, wie er schreibt, jahrelang widerstandslos in „unerträgliche(n) Lagen, Orte(n), Wohnungen, Gesellschaften“, um keine weitere Kraft zu verschwenden. Die Bejahung der leidvollen Zustände, die Nietzsche fordert, geht sehr weit. Nicht nur eine mehr oder minder widerwillige Akzeptanz, wie sie wohl derzeit viele praktizieren, ist gefordert. Sondern eine vollkommene Bejahung: „daß man nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen –, sondern es lieben.“ Erst im Amor Fati, in der Liebe zum Schicksal, überwindet man wirklich all die kräftezehrenden Widerstände. Es gilt, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und sie sich dabei auch nicht anders zu wünschen. Allerdings spielt diese radikale, ja liebende Akzeptanz dessen, was ist, bei Nietzsche in interessanter Weise mit einem ebenso radikalen Gestaltungs- und Selbstwerdungswillen zusammen.

 

 

„Man weiß von nichts loszukommen, man weiß mit nichts fertig zu werden, man weiß nichts zurückzustoßen – alles verletzt. Mensch und Ding kommen zudringlich nahe, die Erlebnisse treffen zu tief, die Erinnerung ist eine eiternde Wunde. (…) Hiergegen hat der Kranke nur ein großes Heilmittel – ich nenne es den russischen Fatalismus, jenen Fatalismus ohne Revolte, mit dem sich ein russischer Soldat, dem der Feldzug zu hart wird, zuletzt in den Schnee legt. Nichts überhaupt mehr annehmen, an sich nehmen, in sich hineinnehmen – überhaupt nicht mehr reagieren … Die große Vernunft dieses Fatalismus, der nicht immer nur der Mut zum Tode ist, als lebenerhaltend unter den lebensgefährlichsten Umständen, ist die Herabsetzung des Stoffwechsels, dessen Verlangsamung, eine Art Wille zum Winterschlaf. (…) Weil man zu schnell sich verbrauchen würde, wenn man überhaupt reagierte, reagiert man gar nicht mehr: dies ist die Logik. Und mit nichts brennt man rascher ab, als mit den Ressentiments-Affekten (…) Jener ,russische Fatalismus‘, von dem ich sprach, trat darin bei mir hervor, daß ich beinahe unerträgliche Lagen, Orte, Wohnungen, Gesellschaften, nachdem sie einmal, durch Zufall, gegeben waren, jahrelang zäh festhielt – es war besser, als sie ändern, als sie veränderbar zu fühlen – als sich gegen sie aufzulehnen (…) Sich selbst wie ein Fatum nehmen, nicht sich ,anders‘ wollen – das ist in solchen Zuständen die große Vernunft selbst.“

Auszug aus Ecce homo (1908) von Friedrich Nietzsche

 

 

Denn die im fatalistischen Winterschlaf verbrachten Ruhepausen ermöglichen zugleich die Selbstreflexion: „Die Krankheit gab mir insgleichen ein Recht zu einer vollkommnen Umkehr aller meiner Gewohnheiten; sie erlaubte, sie gebot mir Vergessen; sie beschenkte mich mit der Nötigung zum Stilliegen, zum Müßiggang, zum Warten und Geduldigsein … Aber das heißt ja denken!“ Nietzsche zufolge ist es das Grundproblem des modernen Menschen, dass er ständig einer Unzahl von Einflüssen ausgesetzt ist – Meinungen, Forderungen, Erwartungen – und sich automatisierter Reaktionen auf sie oft nicht mehr erwehren kann. Auf diese Weise findet man sich sehr schnell in Lagen und Handlungsmustern wieder, die man sich bei Lichte besehen niemals ausgesucht hätte. Um überhaupt wieder einen klaren Kopf und ein Gefühl dafür zu bekommen, was einem entspricht und wohin man will, braucht es eine radikale Verlangsamung. Wer hingegen versucht, einen Ausweg zu finden, indem er immer hektischer durchs Dickicht rennt, wird sich noch mehr verirren.

Wer versucht, den Knoten seiner Probleme zu lösen, indem er mit aller Kraft an dessen Enden zieht, zurrt den Knoten noch fester. Nietzsche selbst wurde sich, wie er beschreibt, erst in seinen langen Krankheitsphasen, in den Zeiten des Winterschlafs, seiner selbst bewusst: „Mit einem Male war mir auf eine schreckliche Weise klar, wieviel Zeit bereits verschwendet sei – wie nutzlos, wie willkürlich sich meine ganze Philologen-Existenz an meiner Aufgabe ausnehme.“ Er beendet seine Existenz als Professor in Basel und wird freier Philosoph. Zudem wird ihm die Bedeutung für ihn passender klimatischer Verhältnisse, der richtigen Umgebung und Ernährung klar: „In meiner Basler Zeit war meine ganze geistige Diät, die Tages-Einteilung eingerechnet, ein vollkommen sinnloser Mißbrauch außerordentlicher Kräfte, ohne eine irgendwie den Verbrauch deckende Zufuhr von Kräften, ohne ein Nachdenken selbst über Verbrauch und Ersatz.“

 

Keine blinde Flucht nach vorne

 

Auf diese Weise verbindet sich also die Einsicht ins Notwendige und Gegebene – die eigenen Anlagen und Bedürfnisse – mit dem Willen zur Selbstkultivierung. Eine solche Anerkennung der Realität bräuchte es seit Langem schon. Und zwar nicht nur in Bezug auf unsere persönlichen Ressourcen, sondern auch in Bezug auf die äußere Natur. Ununterbrochen erreichen uns Nachrichten vom Anstieg der CO2-Werte, der Temperaturen und der Meeresspiegel. Nachrichten vom rasanten Artensterben, der Verschmutzung der Ozeane, vom Abschmelzen der Gletscher. Dennoch werden ökologische Krise und Klimawandel weithin ausgeblendet. Unter denjenigen, die die Probleme realisieren, stellen sich wiederum viele unter Resilienz einen weiteren Aktivitätsschub vor: Wenn die Natur außer Kontrolle gerät, so die These, brauche es eben noch mehr technische Naturbeherrschung, zum Beispiel in Form von Geoengineering.

Und es brauche Strategien, um ökologische Technologien und Produkte wirtschaftlich profitabel zu machen. Man könnte doch zum Beispiel kleinste Partikel in die Stratosphäre schießen, um so die Sonneneinstrahlung zu reflektieren und die Erde abzukühlen. Ignoriert wird dabei, dass uns gerade die exzessive technische Naturbeherrschung und Ausbeutung erst in die verfahrene Situation geführt haben, die wir erleben. Schon Albert Einstein bemerkte jedoch: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Vielversprechender wäre, wenn wir die Begrenzung der natürlichen Ressourcen (der äußeren und unserer eigenen Natur) annehmen und bejahen würden. Für solche Einsicht könnte der erzwungene Winterschlaf genutzt werden. Und in der Folge könnte vielleicht über Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten nachgedacht werden, die etwas anderes wären als die blinde Flucht nach vorne. •

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