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Bild: bluinfaccia via Flickr CC

Klassiker

Walter Benjamin und die Geschichte

Wolfram Eilenberger veröffentlicht am 14 Juli 2017 8 min

Heute jährt sich der Geburtstag Walter Benjamins zum 130. Mal. Im Sommer 1940, nur wenige Tage vor seinem Suizid, verfasste der Philosoph seinen epochalen Text Über den Begriff der Geschichte, der auch heute noch aktuell ist. Ruft er uns doch dazu auf, gerade in Zeiten höchster historischer Anspannungen und akuter Krisen offen für das Rettende zu bleiben.

 

Kein Zweifel, die Geschichte hat uns wieder. In den vergangenen zwölf Monaten überstürzen sich politische Ereignisse in einer Weise und Intensität wie seit dem Jahr 1989 nicht mehr: von Merkels Entscheidung, die deutschen Grenzen für Flüchtlinge bedingungslos zu öffnen, bis zu kontinuierlichen Terrorattacken und Amokläufen in Europas Metropolen (und mittlerweile auch Kleinstädten), von der Präsidentschaftskandidatur Donald Trumps bis zum Brexit, von den fortdauernden Barbareien im Bürgerkriegsland Syrien bis zur Tatsache, dass täglich noch immer Dutzende Menschen im Mittelmeer ertrinken. Tief besorgt, mitunter geradezu geschockt folgt man derzeit den Abendnachrichten und fragt sich verstört, in „was für einer Zeit wir eigentlich leben“. Oder murmelt ungläubig vor sich hin: „Dass so etwas im 21. Jahrhundert in Europa noch möglich ist …“

Wer im Moment so denkt und empfindet, bezeugt damit, einer Geschichtsphilosophie anzuhängen, die der deutsche Philosoph und Kulturtheoretiker Walter Benjamin für rettungslos falsch hält. Denn wie Benjamin im Jahre 1940 – als deutscher Jude in Frankreich konkret von der Deportation und damit Auslöschung bedroht – in seinem letzten großen Text mit dem Titel „Über den Begriff der Geschichte“ schrieb, „ist das Staunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ‚noch‘ möglich sind, (…) kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.“ Von welcher Vorstellung spricht Benjamin hier? Und inwiefern herrscht dieser falsche „Begriff der Geschichte“ bis heute gesellschaftsdeckend vor?

Für Benjamin ist unser derzeitiges, falsches Geschichtsbewusstsein im Kern von der Idee des Fortschritts getragen. Er nennt dieses Geschichtsbild 1940 deshalb im denkbar weitesten Sinne „sozialdemokratisch“ – und wählt damit einen Term, der bis heute unmittelbar einleuchtet. Denn anstatt einen radikalen Bruch mit den in der westlichen Welt herrschenden Verhältnissen und Produktionsweisen anzustreben, setzt dieses Geschichtsverständnis auf eine kontinuierliche Verbesserung der Lebenssituation einer immer größeren Anzahl von arbeitenden Bürgern. Die Allheilmittel für diesen kontinuierlichen Fortschritt nennt Benjamin ganz explizit: parlamentarische Demokratie, Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch technologischen Fortschritt, Fortschritt der Naturbeherrschung samt eines Schutzes dieser Natur als ökonomische Ressource für den Menschen – im heutigen Jargon also ein nachhaltiges Wirtschaften. Derart weit bestimmt, lebt derzeit tatsächlich die gesamte westeuropäische Welt, und zwar über das gesamte bürgerliche Parteienspektrum hinweg, in einer fortwährenden Fortschrittserwartung. Besonders pointiert kommt sie in hoffnungsstarken Slogans wie „Yes We Can“ (Barack Obama) oder „Wir schaffen das!“ (Angela Merkel) zum Ausdruck. Geht nun vor diesem Erwartungshintergrund etwas gründlich schief oder läuft vollends aus dem Ruder, zeigt sich das bürgerliche Subjekt folgerichtig tief geschockt. Und verspricht sich sogleich gegenseitig, das bereits bestehende Maßnahmengerüst weiter auszubauen und zu optimieren. Wie am Beispiel des Brexits beispielhaft zu beobachten: Grundlegend geändert werden soll in der EU auch zukünftig nichts, dafür aber die bestehenden Bemühungen und Lösungskonzepte allseitig intensiviert.

 

Von Trümmern und Engeln

 

Genau dieser Fortschrittskonzeption der Geschichte stellte Benjamin nun 1940 – als Europas Ordnung zum zweiten Mal binnen weniger Jahrzehnte kriegerisch zerfiel und im Begriff war, bis dato unvorstellbare Gräuel zu begehen – eine ganz andere Perspektive auf die menschliche Geschichte entgegen. Es ist sein bis heute gefeiertes, von einem Gemälde Paul Klees inspiriertes Denkbild vom „Engel der Geschichte“ (Absatz XI, „Über den Begriff der Geschichte“): „Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in dieZukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Was aus Sicht des herrschenden Dogmas als Fortschritt erscheint, wird hier als sich unablässig auftürmende Folge von Katastrophen erkennbar, die uns in Form riesiger Trümmerhaufen direkt vor die Füße fallen. Natürlich zeigt sich Benjamins Gegenbild einerseits stark marxistisch motiviert. Ja, nach oberflächlicher Lesart ist seine formulierte Kritik am Fortschrittsparadigma nichts anderes als ein poetisierter Marxismus: Revolution statt Evolution, Umsturz statt Reform! Getragen von der Überzeugung, der moderne westliche Fortschritt gehe notwendig einher mit globaler Ausbeutung und Verheerung. Andererseits schließt seine Kritik am herrschenden Begriff der Geschichte aber selbst noch das Geschichtsbild des Marxismus mit ein, sofern auch dieses auf dem Glauben beruht, die Geschichte der Menschheit sei in Wahrheit von einer klaren Dynamik oder Gesetzlichkeit, im gegebenen Fall eben des „historischen Materialismus“ bestimmt und somit in ihrem Verlauf letztlich determiniert.

Sowohl die seit Francis Fukuyama herrschende, marktliberale Rede vom „Ende der Geschichte“ nach 1989 als auch das bis heute handelsübliche marxistische Narrativ vom zwangsläufigen Zusammenbruch „des Systems“ beruhen auf der letztlich hegelianischen Idee eines zielgerichteten Zulaufens auf einen Endzustand der Geschichte, der sich hier auf Erden dereinst allein durch menschliches Handeln einstellen wird. Genau daran aber glaubt Benjamin nicht. Vielmehr sieht er gerade in dem quasireligiösen Glauben an den Fortschritt die eigentliche Ursache der fortdauernden Katastrophe. Doch was genau ist philosophisch falsch am bis heute vorherrschenden Bild der Geschichte? Ausgehend von der These, all das, was wir „die Geschichte“ nennen, sei zu jedem beliebigen Zeitpunkt nichts anderes als die von uns mit bestimmten Interessen erinnerte Vergangenheit, setzt Benjamin zu einer dreifachen Dekonstruktion des eigentlichen gedanklichen Grundfehlers an, der seiner Überzeugung nach sämtliche historische Fortschrittsideologien fundiert. Es ist der Fehler von der Vorstellung einer, wie er sie nennt, „leeren Zeit“.

Nur wer annimmt, man könne historische Ereignisse auf der Basis einer (letztlich mathematisch gedachten) „leeren Zeit“, in der ein Zeitpunkt ganz kontinuierlich auf den nächsten folgt, Stück für Stück aneinanderreihen, um sie dann „durch die Finger laufen zu lassen wie einen Rosenkranz“, ist überhaupt in der Lage, „jedem Ereignis seinen festen Platz in der großen, universalen Bewegung auf den Fortschritt der Menschheit“ zuzuweisen. Erst unter der Annahme einer „leeren Zeit“ kann die Frage, „wie es denn eigentlich gewesen ist“, überhaupt sinnvoll erscheinen.

Dass dieses Bild, diese Frage allzu naiv ist und damit notwendig in die Irre führt, liegt für Benjamin erstens darin, dass die Geschichte als festgehaltene fast ausschließlich von den Siegern eines jeweiligen „Klassenkampfes“ geschrieben wurde und somit immer schon als ideologisch getränkte, verzerrte und verkürzte auf uns kommt. („Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“) Wichtiger aber noch scheint ihm zweitens, dass Menschen ihre Zeit immer schon als konkret erwartete und sinnerfüllte Zeit erfahren. Was immer in der Historie passiert,ist bereits auf spezifische Weise erwartet worden. Das zeigt sich besonders klar an historischen Schlüsselereignissen. Denn erst ein mannigfach getränkter Sinnhintergrund ist es ja, der angesichts von Ereignissen wie etwa dem Mauerfall oder dem Brexit bei den jeweiligen Zeugen gewisse Reaktionen des Schocks oder der Freude auslöst. Und damit auch neue Deutungshorizonte auf bereits lange Vergangenes öffnet, das nun auf einmal in ganz anderem Licht erscheint. Gerade weil „Geschichte“ immer nur in der Form des Erinnerns von Vergangenem zugänglich ist (und damit Vergangenes immer nur in Form von Geschichten), steht die Vergangenheit nach Benjamin damit drittens genauso wenig fest wie die Zukunft. Sie ist vielmehr ebenfalls ständig in Bewegung. Vergangenheit und Zukunft sind in gleicher Weise dynamisch, gleicher Weise offen, gleicher Weise fragil.

Um diese paradox erscheinende Konstellation zu verdeutlichen, wählt Benjamin schon seit der Frühphase seines Denkens das Beispiel eines Sternbilds wie etwa des Großen Wagens. Zunächst weist er darauf hin, dass dieses Sternbild nur als Sternbild erscheint, wenn man die einzelnen Punkte, aus denen es besteht, von vornherein als Ganzheit wahrnimmt (anstatt sie in einem „leeren Raum“additiv aneinanderzureihen). Vor allem aber ist die Art und Weise, wie sich dieses Sternbild dem menschlichen Auge zeigt, nicht unabhängig von dem Ort und der Zeit, in der es betrachtet wird. Auf der Südhalbkugel zeigt es sich anders als in der nördlichen Hemisphäre, und in zehn Millionen Jahren würde es einem Betrachter wiederum anders erscheinen als heute.

Die an sich sinnvoll scheinende Frage, wie das Sternbild des Großen Wagens nun „in Wahrheit“ aussieht, erweist sich damit als methodisch naiv, ja sinnlos. Übertragen auf das Thema der Geschichte: Jede historische Erkenntnis trägt selbst einen historischen Index. Das heißt, nur zu gewissen Zeiten sind gewisse historische Einsichten für ein geschichtliches Subjekt überhaupt möglich. An die Stelle einer leeren, homogenen Zeitkonzeption, die nach Benjamin die Grundlage sämtlicher Geschichtsbegriffe seiner Kultur bildet, setzt er damit das Bild einer immer schon erwartungsgefüllten, vielfach zerfurchten und disruptiven historischen Zeit, in der die Vergangenheit genauso offen und dynamisch ist wie die Zukunft. „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“

 

Die Chance des „Chocks“

 

Mit diesem alternativen Geschichtsbegriff ist jeder Fortschrittsideologie – also mithin dem bis heute tragenden Narrativ der westlichen Demokratien – das Fundament entzogen. Nach ihrer Verabschiedung ersetzt Benjamin den Begriff des Fortschritts in seiner Philosophie durch den Begriff der Erlösung – und lädt ihn theologisch auf. Die Schlüssel zu einer je gegenwärtigen Erlösung liegen für Benjamin dabei weit versprengt in der von uns erinnerbaren Vergangenheit. Sie zu einem jeweiligen Zeitpunkt zu finden, liegt nicht allein in der Hand derer, die bewusst und methodisch nach ihnen suchen. Vielmehr bleibt das Ereignis der Erlösung für Benjamin immer etwas, was menschliches Wollen und Streben übersteigt. Es hat immer auch den Charakter der prophetischen Eingebung – und ist insofern etwas Göttliches. Wie lässt sich seine, explizit von der jüdischen Theologie inspirierte Rede von einer Zeit begreifen, in der „jede Sekunde die kleine Pforte (ist), durch die der Messias treten“ kann?

Zunächst sind es für Benjamin gerade historische Momente höchster Verstörung und Zerrissenheit, die dieses Fenster besonders weit öffnen. Sie sind für ihn damit Erkenntnischancen, an denen sich nichts Geringeres als die Zukunft der Menschheit entscheidet. Denn natürlich, auch das folgt aus seinem neuen Begriff der Geschichte ebenso wie aus seinen konkreten Lebenserfahrungen, steht Wesen wie uns trotz allem empfundenen Fortschritt auch jederzeit das Fenster in die totale Barbarei offen. Die tiefen historischen Verstörungen und „Chocks“, die wir derzeit alle am eigenen Leib verspüren, weisen im Sinne Benjamins damit nur dann den Weg in eine bessere Zeit, wenn wir sie zum Anlass nehmen, das derzeit vorherrschende Fortschrittsgestell grundsätzlich zu hinterfragen und es gegebenenfalls heilsam zu überwinden. Denn erst wenn dieser falsche Begriff von der Geschichte philosophisch abgelegt ist, öffnet sich seiner Überzeugung nach die Möglichkeit auf eine wahrhaft neue, erlösende Sicht der Geschichte. Eine Erlösung, die er nicht zuletzt darin erkennt, bisher verdrängte, verschüttete und verlorene Stimmen der Vergangenheit zum Sprechen zu bringen, auf dass sie von einer neuen Vergangenheit aus den Weg in eine andere Zukunft weisen. Benjamin selbst war zeitlebens so eine Stimme. Und die Zeit, ihre Botschaft neu zu vernehmen, selten günstiger als heute. •

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