Der Unfassbare – Im „Eingedenken“ an Walter Benjamin
In einer Septembernacht im Jahre 1940 nahm sich der Philosoph Walter Benjamin auf der Flucht vor den Helfern der Nazis das Leben. Ein Porträt zum 85. Todestag.
Der amerikanische Dichter Walt Whitman hat einmal erklärt, dass er „Vielheiten“ enthalte und sich deshalb widersprechen dürfe. Einmütigkeit mit sich selbst, finale Positionierung gar, solle man nicht von ihm erwarten. Eine solche Form der beweglichen und doch nicht beliebigen Selbstverortung könnte auch von Walter Benjamin stammen, dem großen Denker der kleinen Details. Das Abschreiten manifester Gegensätze, der Flirt mit radikalen Ideen, die sich jeder Vermittlung zu verweigern scheinen, bilden ein wesentliches Merkmal seiner fragmentarischen Arbeit – und seiner unsteten Lebensweise.
Im Spätwerk versah er marxistische Motive mit Bruchstücken jüdischer Mystik. Auch biografisch schlingerte er mitunter zwischen Moskau und Jerusalem. Und zwischen Berlin und Paris, den flirrenden, sich ständig verwandelnden Hauptstädten seiner Zeit, in denen er beim ziellosen Flanieren die Kunst des Sich-Verlierens übte. Benjamin – Philosoph, Übersetzer, Kulturkritiker – stand zeit seines Lebens zwischen den Stühlen, den Frauen und Freunden, Klassen und Kulturen, Arbeitsbereichen und Denkformationen. Sein zu Lebzeiten – im Vergleich zu den Werken der befreundeten Kapazitäten Brecht und Adorno – eher spärlich rezipiertes Œuvre gleicht einer weitverzweigten Mine, in der alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen der Gegenwart längst reichlich geschürft haben.
Er wolle „immer radikal und niemals konsequent“ sein, schrieb er seinem langjährigen Freund, dem Religionshistoriker und Kabbala-Forscher Gerhard „Gershom“ Scholem. So sehr diese Formel sein Leben bezeichnet, die letzte Entscheidung war endgültig: Auf der Flucht vor den französischen Helfershelfern des Naziregimes wählte Benjamin den Freitod. In der Nacht zum 24. September 1940 kam er seiner Auslieferung im spanischen Grenzort Port-Bou mit einer Überdosis Morphium zuvor.
Das Mannigfaltige der Stadt
Sein nicht einmal 50 Jahre währendes Leben begann Walter Bendix Schoenflies Benjamin 1892 als Spross einer assimilierten deutsch-jüdischen Familie in Berlin-Charlottenburg. Die beiden zusätzlichen Vornamen repräsentieren Benjamins aus dem Rheinland und dem Osten herstammende Familien. So verflochten sich in Benjamin, wie Scholem schrieb, nicht zuletzt auch „die beiden Hauptzweige des deutschen Judentums“, die westliche mit der östlichen Welt, das Städtische mit dem Schtetl. Seine Kindheitseindrücke im wilhelminischen Berlin hat er in den 30er-Jahren in dem Text Berliner Kindheit um neunzehnhundert verarbeitet. Das Graben nach den in der Vergangenheit ausgestreuten Erinnerungsmomenten legt den Kern der großstädtischen Lebenswelt an der Schwelle zum 20. Jahrhundert frei. Benjamin ging es dabei nicht um nostalgisch gefärbte Anekdoten; vielmehr unternahm er den Versuch, „der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt.“ Das Mannigfaltige der Stadt hat Benjamins Denken durchformt. Und so wie Berlin, das sich um die Jahrhundertwende allmählich von einer ehemaligen Residenzstadt in eine moderne Metropole transformierte, war Benjamin Zeit seines Lebens permanent in Bewegung.
Er studierte in Freiburg, München, Berlin und Bern, reiste schon früh und immer wieder nach Frankreich und Italien, lebte zeitweilig in Moskau, erwog nach Palästina zu ziehen, zog bei seinen Eltern aus, zog wieder zurück. Seine letzten Jahre im Pariser Exil verbrachte er ohne festen Wohnsitz. Er plante Zeitschriften und Großprojekte, die entweder gar nichts oder anders wurden als er eigentlich gewollt hatte. Der Erste Weltkrieg war ein Schock; mit vorgetäuschten Rückenschmerzen entkam er dem großen Gemetzel. Der Traum einer akademischen Laufbahn zerbrach am Universitätsbetrieb. Seine genialische Habilitationsschrift Über den Ursprung des deutschen Trauerspiels war den verantwortlichen Professoren in Frankfurt schlichtweg nicht verständlich, in jeder Hinsicht unorthodox und wurde deshalb zurückgewiesen. Am Beispiel des barocken Trauerspiels rollte er das 17. Jahrhundert auf, strebte an, „die starren Scheidewände“ zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen zu durchbrechen und Kunstwerke entgegen gängigen Gepflogenheiten als „Ausdruck der religiösen, metaphysischen, politischen, wirtschaftlichen Tendenzen einer Epoche“ zu deuten.
Die Ablehnung der Autoritäten nötigte den jungen Benjamin, als freischaffender Autor sein Auskommen zu finden. Der Vater entzog ihm jede Unterstützung. Von da an bis zu seinem Freitod, fehlte ihm ein tragendes Gerüst. Chronischer Pleitier, Sammler für ihn viel zu teurer antiquarischer Kinderbücher, passionierter Spieler und Bordellgänger, wurde er in den 20er-Jahren trotz allem eine relative Größe. Er schrieb Essays und wissenschaftliche Untersuchungen, kulturpolitische Artikel, Glossen, Kritiken und Reportagen, bespielte Hugo von Hoffmannsthals Neue Deutsche Beiträge und – auf Vermittlung von Siegfried Kracauer – sein Hausblatt, die Frankfurter Zeitung, fertigte Hörspiele für Jugendliche an, übersetzte Proust und Baudelaire.
Urgeschichte der Moderne
Mitte der 20er-Jahre wird der Ton seiner Arbeiten zunehmend radikaler. Seine Geliebte Asja Lacis, die „russische Revolutionärin aus Riga“ führt ihn in die „politische Praxis des Kommunismus“ ein. Durch Lacis lernt er Brecht kennen, Diskussionen mit Bloch, mit Adorno und Horkheimer tragen ihr übriges bei. Sein mit Scholem verknüpftes Interesse an jüdisch-theologischen Denkfiguren aber hält auch weiterhin an, verschränkt sich mit dem Marxismus zur eigenen Philosophie. Im Passagen-Werk, dem Fragment gebliebenen Hauptwerk und Großkonvolut, bemüht sich Benjamin am Beispiel von Paris, „der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, mit Blick auf scheinbare Nebensächlichkeiten, eine „Urgeschichte der Moderne“ zu schreiben. Die jüdische Praxis des „Eingedenkens“, die planvoll-zufällige Bergung verschüttgegangener Vergangenheiten, kommt hier voll zu ihrem Recht. Benjamin legt mit der Untersuchung der Pariser Passagen als „Tempeln des Warenkapitals“ nicht bloß den problematischen Untergrund seiner eigenen Gegenwart offen. Das, was er vor allem bemüht, ist eine neue Form der Geschichtsphilosophie, in der verdrängte und verlorene Vergangenheitssplitter die Chance einer besseren Zukunft eröffnen. So ist Benjamin als Gewährsmann des von ihm übersetzen Proust in gleichsam revolutionärer Absicht auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
Seine letzte Schrift Über den Begriff der Geschichte sprüht nur so vor rätselhaften Denkbildern, die das Konzept eines diachronen Zeitverlaufs formvollendet auf die Spitze treiben. Hier tritt auch der „Engel der Geschichte“ auf, jene von Paul Klees Aquarellzeichnung Angelus Novus inspirierte Figur, in deren aufgespannten Flügeln sich der Sturm eines buchstäblich rücksichtslosen Fortschritts verfängt. Die okzidentale Großerzählung vom immerwährenden Voranschreiten, die sich in der christlichen Heilslehre genauso verbirgt wie in der Teleologie eines Hegel oder Marx, zeitigt einen wachsenden Trümmerberg, eine heillose Katastrophe.
Heilige Funken
In jeder Zeit aber, so Benjamin, lagern „heilige Funken“, verfemte und verlorene Potenziale, die „messianisch“ entborgen und somit reaktiviert werden können. Vergangenheit und Gegenwart bilden in jedem einzelnen Moment eine eigene „Konstellation“. Auch oder gerade in Augenblicken schlimmster historischer Verirrung ist es möglich, das Gestern anders zu lesen, um das Morgen zu beeinflussen. Benjamin selbst jedoch war ein notorischer und depressiver Zauderer, hat den geeigneten Augenblick, den Kairos immer verpasst. Anstatt seinen Plan zu verwirklichen, zu Scholem nach Jerusalem zu gehen, gebrauchte er das ihm von der Jerusalemer Universität für das Besuchen von Hebräisch-Kursen überwiesene Geld, um für sich und die geliebte Asja Lacis eine schöne Wohnung in Berlin zu mieten; aus der diese ihn bald vertrieb, woraufhin er seiner Ehefrau Dora erklärte, er wolle die Scheidung, um mit Lacis zu leben. Anstatt mit seinem wohl einzigen „Schüler“ Adorno und dem Institut für Sozialforschung in die USA zu immigrieren, ging er ins Exil nach Paris. Das Institut druckte seine Schriften, doch nie in der von ihm gewünschten Form.
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde der Jude Benjamin in Frankreich als Deutscher interniert. Im Lager plante er eine Zeitung und gab gegen ein „Entgelt von drei Gauloises“ Seminare in Philosophie. Als er später – wieder auf freiem Fuß – vor den Vichy-Kollaborateuren über die Pyrenäen floh, wählte er den für den Grenzübertritt nach Spanien einzigen falschen Moment aus. Einen Tag früher ließ man Flüchtlinge noch durch, einen Tag später haben diese gewusst, dass die spanischen Grenzer nun ernst machten.
Nach Benjamins tragischem Selbstmord, wurde er beinahe vergessen. Dank Scholem und Adorno, die die Herausgabe seiner Werke anstrengten, konnte Benjamin „errettet“ werden. Doch der Streit um die richtige Lesart hatte gerade erst begonnen. Adorno hatte an Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schon früher kritisiert, dass sein älterer Freund in dem durch die Massenkultur eingeleiteten „Aura-Verlust“ des Kunstwerks auch emanzipatorische Möglichkeiten sah. Für Adorno blieb das Medium Film Teil der kritisierten Kulturindustrie, auch vor einem Charlie-Chaplin-Film werde ein Reaktionär niemals zum Avantgardisten. Die Kritik setzte sich nach Benjamins Ableben auch insofern fort, als Adorno die marxistischen Passagen, die er als künstlich und aufgesetzt empfand, aus dessen Texten entfernte. Zum Unmut von Teilen der Studentenbewegung, die Benjamin neu für sich entdeckten.
So wie man die Geschichte im Prozess des „Eingedenkens“ von jedem Moment der Gegenwart aus auf neue Weise lesen kann, verhält es sich auch mit Benjamins Werk. Das Unabgeschlossene und Offene lässt es weiter lebendig bleiben. Vielleicht lohnt es gerade von heute aus, Benjamin wieder zu lesen. Angesichts der kapitalistischen Steigerungslogik, die den Planeten zu verheeren droht, beharrlich Trümmer auf Trümmer schichtet, ist Fortschrittskritik in fortschrittlicher Absicht nicht verjährt. In Benjamins Worten: „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ •
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