Eine Frage der Verfügbarkeit
Nur wenige Tage nachdem der AstraZeneca-Impfstoff gegen Covid-19 zeitweise zurückgehalten wurde, ist er nun wieder freigeben. Was viele als eine überhastete Entscheidung betrachteten oder gar für einen groben Fehler hielten, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein Fehlschluss, den wir alle alltäglich begehen.
Deutschland und viele andere europäische Länder stoppten in den vergangenen Tagen die Verwendung des AstraZeneca-Impfstoffs. Die Bundesregierung pausierte die Impfungen auf Anraten des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), da vereinzelt Fälle seltener Blutgerinnsel in zeitlicher Nähe zur Impfung aufgetreten waren. Die Entscheidung war umstritten. Denn es stand noch keineswegs fest, ob die Impfung ursächlich für die Blutgerinnsel war. Und selbst wenn es sich um Nebenwirkungen handeln würde, so wären sie deutlich seltener als schwere Verläufe einer COVID-19 Erkrankung ohne Impfung. Nur wenige Tage nach dem Impfstopp folgte dann die erwartbare Entwarnung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA), sodass der Impfstoff wieder freigegeben wurde. Der Impfstoff des schwedisch-britischen Herstellers erschien dabei nicht zum ersten Mal in schlechtem Licht: Zunächst wurde er in Deutschland nicht an ältere Menschen abgegeben, obwohl diese besonders durch eine Infektion mit SARS-CoV-2 bedroht sind. Als die Zulassung endlich auf diese Altersgruppe ausgeweitet wurde, häuften sich Beschwerden über moderate Nebenwirkungen wie grippeähnliche Symptome.
Zum vorübergehenden Stopp der AstraZeneca-Impfung führten dann Berichte über die erwähnten Blutgerinnsel. Diese gehören zu der Übergruppe der thromboembolischen Ereignisse und können verschiedene Ursachen haben. Ungefähr ein bis drei Menschen aus Tausend erkranken pro Jahr an einer Form von Blutgerinnseln, meist sind es Beinvenenthrombosen. In zeitlicher Nähe zur Verabreichung des AstraZeneca-Impfstoffs kam es nun zu einer auffälligen Häufung von Sinusthrombosen, die Schlaganfälle, innere Blutungen und Krampfanfälle auslösen können und im schlimmsten Fall zum Tod führen. Solche Sinusthrombosen erleiden normalerweise nur etwa drei bis fünf Menschen aus einer Million pro Jahr. Unter den 1,6 Millionen Menschen, die hierzulande bis zum Zeitpunkt der Entscheidung geimpft wurden, waren zunächst sieben Fälle von Sinusthrombose bekannt, wobei es sich mehrheitlich um junge Frauen handelte.
Gedankliche Abkürzungen
Über den Zusammenhang zwischen Sinusthrombosen und der Vergabe des AstraZeneca Impfstoffs ließ sich zum Zeitpunkt der Entscheidung nur spekulieren. Fest stand lediglich eine Korrelation, die auf Kausalität hindeutet, sie aber nicht beweist. Dass auf Grund einer bloß vermuteten Kausalität ein Impfstopp beschlossen wurde, deklarierte Gesundheitsminister Jens Spahn als eine „Vorsichtsmaßnahme“. Nicht nur Nutzer in den sozialen Medien, sondern auch viele Gesundheitsexperten hielten wiederum gerade diese Entscheidung für höchst unvorsichtig. Das Aussetzten der AstraZeneca-Impfung würde mehr Schaden anrichten als verhindern. Zum einen gefährde die Entscheidung das ohnehin schon angeschlagene Vertrauen der Bevölkerung in das Vakzin. Zum anderen würde jeder verlorene Tag mehr Kranke und Tote durch eine Infektion bedeuten. Denn die 7-Tage-Inzidenz liegt in Deutschland, Stand 20.03., derzeit bei 99.9.
Dass die Sorge vor statistisch sehr seltenen Nebenwirkungen zunächst überwog, ist jedoch weniger überraschend, als es auf den ersten Blick scheint, wenn man bedenkt, welche kognitiven Mechanismen wir nutzen, um Wahrscheinlichkeiten und Häufigkeiten einzuschätzen. Die Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky untersuchten in den 1970er Jahren, wie Menschen die Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit bestimmter Ereignisse bei unsicherer Datenlage bewerten. Kahneman und Tversky entdeckten dabei, dass wir uns bei komplizierten Vorhersagen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen durch die Verwendung sogenannter „Verfügbarkeitsheuristiken“ behelfen. Letztere funktionieren wie geistige Abkürzungen. Statt tatsächlich eine statistische Berechnung durchzuführen, um herauszufinden, wie oft ein bestimmtes Ereignis eintreten wird, lassen wir uns davon leiten, wie leicht uns vergangene Ereignisse derselben Art einfallen. Wir greifen also auf die gedankliche Verfügbarkeit eines Ereignisses zurück, weil wir uns oft besonders gut an Dinge erinnern können, die sich wiederholen.
Gefühlte Risiken
So kennen wir beispielsweise eine Telefonnummer auswendig, weil wir sie oft gewählt haben. Allerdings gibt es noch andere Faktoren, die die gedankliche Verfügbarkeit beeinflussen, etwa die Salienz, also die Auffälligkeit oder der emotionale Wert eines Ereignisses. Die Meisten von uns erinnern sich beispielsweise auch sehr gut an unsere Einschulung, obwohl sie sich nicht ständig wiederholt. Aber nicht nur persönliche, sondern auch medial aufbereitete Ereignisse können uns durch ihre leichtere Verfügbarkeit in die Irre führen. Lesen wir von einem Flugzeugabsturz, nehmen wir bei der nächsten Reise vielleicht lieber das Auto, obgleich es statistisch gesehen das größere Unfallrisiko darstellt.
Dass über die Sinusthrombosen im Zusammenhang mit der AstraZeneca Impfung umfassend berichtet wurde, war im Sinne der Transparenz selbstverständlich wichtig, steigerte aber gleichzeitig die kognitive Verfügbarkeit der fatalen Nebenwirkungen, die wiederum den statistisch ungleich größeren Nutzen verblassen ließen. Tvasky und Kahneman vermuteten, das Wissen um die Verfügbarkeitsheuristik könne helfen, unsere Wahrscheinlichkeitseinschätzungen entsprechend zu korrigieren. Für das Gelingen der Impfkampagne kann man nur hoffen, dass sie damit Recht behalten. •
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