Élisabeth Badinter: "Wir müssen dem Fanatismus die Stirn bieten"
Im Frühling dieses Jahres, nach den Anschlägen von Paris im November, aber vor dem Attentat am Französischen Nationalfeiertag in Nizza, sprach das Philosophie Magazin mit der Philosophin Élisabeth Badinter über die Bedeutung, die fundamentalistischer Terror für laizistische und demokratische Staaten hat und wie sie damit umgehen können und sollten. Badinter ist Feministin und bedingungslose Anwältin einer strikten Trennung von Kirche und Staat. In der Konfrontation mit der Rückkehr des Fanatismus appelliert sie mit Nachdruck an die Kraft der Vernunft.
Von Élisabeth Badinters Büro hat man einen freien Blick über die Dächer von Paris und auf den Jardin du Luxembourg. Eine Wendeltreppe führt hinauf. Die Wände sind fast vollständig hinter Büchern und Fotos verschwunden. Ihr Buch „Die Mutterliebe“ (1980), das den Begriff des Mutterinstinkts infrage stellt, sorgte auch in Deutschland für eine heftige Debatte. Die politische Denkerin bezieht immer wieder Stellung: zum Thema Kopftuch, Gleichberechtigung oder Leihmutterschaft und auch zu den Terroranschlägen in Paris. Angesichts der jüngsten Ereignisse fürchtet sie, dass Fanatismus und Parallelgesellschaften wiederkehren. Gleichzeitig bedauert die Philosophin, dass die französischen Intellektuellen nicht neugieriger sind auf die große Umstrukturierung der Welt, in der wir leben. In ihrer aktuellen Arbeit untersucht Élisabeth Badinter die weibliche Seite der Macht. Wie? Im Rahmen einer Biografie über Maria Theresia von Österreich recherchiert sie in den Archiven der europäischen Hauptstädte. „Ich nehme Ernst Kantorowiczs Hypothese über die zwei Körper des Königs auf. Und ich zeige, dass die absolute Macht einer Frau sehr viel größer ist als die eines männlichen Souveräns. Der Körper einer Frau ist eine einzigartige Quelle von Fruchtbarkeit und Macht.“ Ob sie damit auch Angela Merkel meint?
Philosophie Magazin: Wollten Sie schon immer Philosophin werden?
Élisabeth Badinter: Überhaupt nicht. Ursprünglich wollte ich Soziologie studieren. Aber mein Eindruck war, dass den Sozialwissenschaften das nötige Rüstzeug fehlte, um die metaphysischen Probleme zu behandeln, denen sie begegneten. So kam ich zur Philosophie. Übrigens habe ich vier Anläufe gebraucht, um meinen Abschluss und meine Lehrzulassung zu erhalten. Beim vierten Mal sagte der Vorsitzende der Prüfungskommission zu mir: „Diesmal kriegen Sie die Zulassung, weil Sie einfach nerven.“ Es war auch die Zeit, in der ich meine Kinder bekam. Diese Prüfung zu bestehen, wenn man gerade entbunden hat, ist keine Selbstverständlichkeit. Aber es hat mir viel Kraft gegeben.
Sie wurden dann Philosophielehrerin in der Region Paris.
Ja, es hat mir Spaß gemacht, Schülern etwas zu vermitteln, aber ich konnte mir nicht vorstellen, mein ganzes Leben lang den Lehrplan der 13. Klasse zu unterrichten. Der Zufall wollte es, dass ich den Leiter der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der École polytechnique traf, der den Frauenanteil in dieser Institution erhöhen wollte. Er bat mich, ein Seminarthema vorzuschlagen. Ich erzählte ihm also von der Geschichte der Mutterliebe. Er war hin und weg. Also habe ich in groben Zügen das gelehrt, was schließlich mein Buch „Die Mutterliebe“ werden sollte. Anschließend habe ich ein Seminar gemacht zur Frage „Was ist ein Mann?“, um mein Buch über die männliche Identität vorzubereiten. Ein etwas irritierendes Thema für Militärs.
In Ihren ersten Büchern beleuchten Sie die historische Dimension von Erfahrungen wie der Mutterschaft oder der weiblichen Identität. Warum interessiert Sie dieser Aspekt?
Ich war überzeugt, dass das Konzept von Kultur der Dreh- und Angelpunkt für die Befreiung der Frauen war, dass in der Diskussion darüber, was in uns natürlich und was kulturell ist, die entscheidende philosophische Argumentation lag. Ich hatte Beauvoir gelesen. Ich wollte die Veränderung der Verhaltensweisen, die Entwicklung der Werte, die Kontingenz der Identitäten untersuchen.
René Descartes ist für Sie ein wichtiger Bezugspunkt. Kultur ist allerdings kein sonderlich cartesianisches Konzept ...
Ich bin Cartesianerin in dem Sinne, dass ich Rationalistin bin. Mir gefällt die Idee, dass es eine „Ordnung der Gründe“ gibt, wie Descartes sagte. Freilich gibt es das Problem der Stellung des Tieres, das Descartes mit einer Maschine vergleicht. Ich habe mich darüber lange mit Élisabeth de Fontenay und Alain Finkielkraut gestritten, die ich „Zoophile“ nannte. Nach 20 Jahren Widerstand habe ich eingelenkt. Aber Descartes bleibt nichtsdestotrotz eins meiner Fundamente. Zusammen mit den Philosophen der Aufklärung natürlich.
Würden Sie im Sinne der Aufklärer sagen, dass die Vernunft der Schlüssel zum Glück ist?
Absolut nicht. Die Vernunft hat nie jemandem Glück gebracht. Der Aufklärer Condorcet kannte die dunklen Kräfte im Menschen nicht, die Nietzsche und Freud zutage förderten. Aber wenn ich in der Öffentlichkeit Position bezogen habe, so war er für mich die beste Orientierung. Dank ihm fühlte ich mich gewappnet, der Rückkehr des Fanatismus die Stirn zu bieten. Die Vernunft ist durch den Schmutz gezogen worden, auch von Philosophen. Mir war es ein Anliegen zu vermitteln, wie notwendig sie weiterhin ist. Die Linke ist umgefallen: Sie hat ihre Seele verloren – und auch viele Wähler. Die Leute in den Arbeitervierteln haben sich im Stich gelassen gefühlt.
Meinen Sie, die Gesellschaft sollte von Philosophen gelenkt werden?
Ich kann mir Philosophen nicht gut in einer Führungsposition vorstellen, es sei denn man versteht den Begriff im weiteren Sinne. Es ist besser, von Vernunftmenschen aufgeklärt zu werden, als von Sophisten oder Priestern regiert zu werden. Das hat sich bei zwei Gelegenheiten wieder einmal gezeigt. Als Nicolas Sarkozy diesen Satz gesagt hat über die Rolle des Lehrers, der nicht sonderlich wichtig im Vergleich zum Priester sei, weil ihm „immer die Radikalität der Aufopferung seines Lebens fehlt und das Charisma eines durch Zuversicht getragenen Engagements“. Und erst neulich, als Nicolas Hulot (franz. Fernsehmoderator und Umweltschützer, Anm. d. Red.) die „großen Weisen“ versammelt hat, um über den Erhalt der Natur nachzudenken: Es waren nur Geistliche, keine Philosophen, keine Gelehrten. Da mache ich mir Sorgen um die „philosophes“ im Voltaire’schen Sinne. Auch viele Linksintellektuelle, die lange den Wandel der Mentalität, der Werte und somit der Gesellschaft vorbereiteten, haben im Namen der Ideologie jeglichen Wahrheitsanspruch und jegliches Realitätsprinzip über Bord geworfen. Ein Intellektueller, der nichts als ein Ideologe ist, vergisst zu argumentieren, verurteilt sofort seinen Gegner und befiehlt ihm zu schweigen. Es ist wieder wie in der Nachkriegszeit, als die kommunistischen Intellektuellen jedem den Mund verboten, der nicht treu der Linie folgte: „Ihr arbeitet den Faschisten in die Hände.“
In „Les Passions intellectuelles“ zeichnen Sie die Geschichte der Aufklärung anhand der Strategien nach, die Philosophen benutzten, um sich zu legitimieren und ihre Position zu festigen. Was interessierte Sie daran?
Ich wollte zeigen, wie sich intellektuelle Rivalitäten durch die Entstehung der öffentlichen Meinung verändern. Die Intellektuellen wenden sich also diesem neuen Richter zu, dessen Beifall sie gewinnen müssen. Das Spiel wird von nun an zwischen dem Intellektuellen, seinen Kollegen und dem Publikum gespielt. Heute, wo die Medien eine enorme Bedeutung gewonnen haben, könnte man meinen, dass die Macht der Kollegen verschwunden ist. Das glaube ich nicht. Die zur Zeit der Aufklärung eingeführten Regeln gelten auch heute noch für uns.
Sie haben Ihren Mann Robert Badinter auf seinem Weg zur Macht begleitet, als er Justizminister wurde. Wie haben Sie sich Ihre Unabhängigkeit bewahrt?
Ich habe die Dinge als eine Zuschauerin betrachtet und war fasziniert von dieser politischen Welt, die ich nicht kannte. Ich war begeistert von Roberts Kämpfen gegen die Todesstrafe und für bürgerliche Freiheiten. Der einzige heikle Moment war 1989 bei der Kopftuchdebatte. Robert fand, ich sei zu hart zu Jospin, dem Bildungsminister, der eine besonders schwammige Position hatte: „Wir werden versuchen, sie davon zu überzeugen, dieses religiöse Symbol abzulegen, aber wenn sie nicht wollen, dann werden wir das respektieren.“
Ihr Buch „Die Mutterliebe“ löste einen Skandal aus. Sie zeigen darin, dass die Mutterliebe nichts Natürliches oder Unverbrüchliches ist.
Ja, die Frauen, die ich beobachtet und denen ich zugehört habe, haben mir einen Floh ins Ohr gesetzt. Die Frauen sagten mir Dinge, die nicht konform gingen mit dem, was als allgemeiner Konsens gilt. Diese Geständnisse haben mich dazu gebracht, mir die Frage zu stellen, ob der Mutterinstinkt nicht ein Mythos ist. Ich wollte mit den Stereotypen aufräumen, die auf dem Bild der Frau lasteten. Und das hat eine gewisse Wirkung gehabt. Es gab viele Frauen, bei denen Schuldgefühle geweckt wurden, weil sie keinen Aufopferungs-instinkt für ihre Kleinen empfanden, ich gab ihnen die Möglichkeit, das zu entdramatisieren: „Vielleicht bin ich nicht die Einzige.“ Aber mit zwei Dingen hatte ich nicht gerechnet. Erstens das Wiederaufleben eines neuen Naturalismus. Wenn man mir gesagt hätte, dass 30 Jahre später Frauen die Pille ablehnten oder das Babyfläschchen, weil es Chemie sei ... Und dann die Entwicklung reproduktionsmedizinischer Verfahren wie die Leihmutterschaft, die eine Dekonstruktion der Idee von Mutterschaft impliziert. Erst hier ist Mutterschaft komplett von der Natur getrennt.
Sie verstehen sich als kritische Erbin Simone de Beauvoirs. Warum kritisch?
Ich glaube, dass Beauvoir bei den Konzepten des Weiblichen und des Männlichen viel versäumt hat. Alles bloß kulturell, sagt sie. Aber wenn die Stereotypen konstruiert sind, dann bleibt das andere umso rätselhafter. Unsere sexuellen Präferenzen sind nicht rein kulturell. Die Männer besitzen weibliche Hormone und die Frauen männliche Hormone. Jeder und jede von uns trägt diese beiden Kräfte in sich. Dadurch entsteht ein Widerspruch mitten in unserer Identität, den wir nicht einfach nach Belieben aufheben können. „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Ich liebe diesen Satz, aber die Konstruktion der Identität verläuft komplex.
Sie schlagen vor, das Modell der Komplementarität von Mann und Frau zu ersetzen durch das der Androgynie und der „Geschlechterähnlichkeit“. Wie definieren Sie diese?
Das Ungleichheitsmodell basierte auf der Komplementarität zweier Pole: die Frau, die dafür gemacht ist, Leben zu schenken und das Haus zu verwalten, während der Mann dafür gemacht ist, draußen dem Tod zu trotzen. Wenn wir von der Gleichheit ausgehen, tritt an die Stelle dieser Aufteilung ein innerer Gegensatz. Es ist der Mythos der Androgynie, wie er in Platons „Gastmahl“ erzählt wird. Nur dass wir – bevor wir unsere verlorene Hälfte in einem anderen Geschöpf wiederfinden – diese zuerst in uns selbst erfahren. Abgesehen vom Privileg der Frau, das Kind in sich zu tragen, kann jeder heute alles tun, was der oder die andere tut. Jeder kann die Dualität in sich zum Ausdruck bringen. Freud hat die These einer ursprünglichen psychischen Bisexualität aufgestellt. Er hatte recht. Weil uns allen zwei Seiten, die weibliche und die männliche, innewohnen, ähneln wir uns. Und weil wir berechtigt sind, diese beiden Seiten auszuleben, ähneln wir uns von vornherein. Diese Verinnerlichung der Differenz ist die Bedingung für die Entwicklung von Gleichheit. Sie zeigt bereits sichtbare Wirkung. Die Ähnlichkeit kommt in den Körpern und der Kleidung zum Ausdruck, aber auch in unseren Wünschen. Wenn man als Frau nicht mehr seine Machtgelüste und männlichen Seiten unterdrücken muss, wenn man als Mann seinen weiblichen Wünschen und Gelüsten freien Lauf lassen kann, dann macht uns das freier und ausgeglichener.
Und der negative Effekt?
Die Geschlechterähnlichkeit ist einer der Gründe für die Zunahme des Individualismus. Da das Individuum in gewisser Weise „komplett“ ist, braucht man den anderen weniger. Ich diskutiere mit Frauen zwischen 35 und 40. Sie sagen mir: „Ich habe einen Mann, er ist nett, er kümmert sich um die Kinder, aber ich langweile mich so mit ihm.“ Oder auch: „Ich heirate, aber es ist wahrscheinlich, dass ich mein Leben nicht mit derselben Person beenden werde.“ Dinge, die Frauen meiner Generation niemals gesagt, ja nicht einmal gedacht hätten! Zu zweit zu leben war selbstverständlich und es war nicht erstrebenswert, allein zu leben. Man kann sich fragen, ob die Geschlechterähnlichkeit nicht dazu führt, dass sich das Begehren erschöpft – ein Vorbehalt, den Baudrillard meinen Thesen gegenüber geäußert hat. Das alte Modell weckte mehr Begehren und Leidenschaften: Man kannte sich nicht und hatte eine völlig entgegengesetzte Persönlichkeit vor sich. Mit dem androgynen Modell sind die großen Leidenschaften des klassischen Zeitalters tot. Es gibt eine neue Prosa des Gefühlslebens.
Was denken Sie über Judith Butlers Thesen?
Das grenzt schon an Wahnsinn. Judith Butler stellt nicht nur die Geschlechteridentitäten infrage, sie verneint das Konzept von Geschlecht selbst. Jeder hat einen weiblichen und einen männlichen Anteil in sich, es gibt kein reines Geschlecht mehr, kein ausschließliches Modell, dem man sich anpassen muss. Das hat wie eine Bombe eingeschlagen und das ist gut so. Aber von diesem Ausgangspunkt aus die Frage des Geschlechts und des Biologischen zu verneinen, sich zu weigern, von Mann und Frau zu sprechen, das ist wahnsinnig. Trotzdem, Butler treibt ihren Kulturalismus schon wieder so weit, dass sie mich interessiert. Ich finde ihre Arbeit sehr anregend, aber dann sage ich mir, dass sie doch ein bisschen Borderline ist.
Und die Männer? In „XY“ sagen Sie, dass sie alles verloren hätten und dass die Frauen sie unterstützen müssten, statt sie zu quälen.
Gesellschaftlich haben sie noch nicht alles verloren, auch nicht ökonomisch oder politisch. In diesen Bereichen hat man sie noch nicht vom Teilen überzeugen können. Dafür bleibt ihnen im Bereich der spezifischen Identität nicht mehr viel, was Frauen nicht kennen oder erreichen könnten. Was dieses Problem angeht, so beobachte ich mit großem Unbehagen die aktuellen feministischen Bewegungen. Der Kampf für die Freiheit der Frauen verfällt in eine anklagende Rhetorik. Wenn wir von uns als Opfern sprechen, macht man die Männer zu Peinigern. An jedem 8. März spult man zum Internationalen Frauentag die Statistiken ab über Vergewaltigung und sexuelle Belästigung und manipuliert dabei Zahlen und Konzepte. Die Männer werden auch misshandelt. Das ist die negative Seite der Neustrukturierung der Rollen. Angesichts dessen frage ich mich, ob wir nicht eine neue Geschlechtertrennung erleben.
Warum setzen Sie sich für Leihmutterschaft ein?
Ich habe in dieser Frage lange gezögert. Ich befürchtete die Vermarktung des Körpers. Und dann hat mich eine ehemalige Schülerin besucht, die mir gesagt hat: „Ich habe keinen Uterus, ich wünsche mir ein Kind, ich kämpfe für die Leihmutterschaft, helfen Sie mir!“ Und ich habe gedacht, wenn man die Rahmenbedingungen so schafft, dass man der austragenden Mutter nur die Kosten erstattet, die ihr dadurch entstehen, und ihr die Möglichkeit einräumt, ihre Entscheidung rückgängig zu machen, dann spricht nichts dagegen. Für die Frauen, die sich anbieten, ein Kind für andere auszutragen, ist es oft das Beste, was sie je für jemanden getan haben. Man muss ihnen das nicht glauben, aber dann glaubt man auch nicht, dass Altruismus möglich ist.
Sie haben sich an die Spitze des Kampfes für bedingungslosen Laizismus gesetzt. Warum?
In vielen Banlieues macht der Fanatismus enormen Druck. Ich gehe regelmäßig dorthin. Innerhalb von vier Jahren hatten die Frauen den Kopf dort nicht nur verschleiert, sondern regelrecht verbunden. Diesem Druck muss man etwas entgegensetzen. Die Linke ist umgefallen: Sie hat ihre Seele verloren – und auch viele Wähler. Die Leute in den Arbeitervierteln haben sich im Stich gelassen gefühlt. Die Linke hat geglaubt – was ja ehrenhaft ist –, wenn man den Leuten die Möglichkeit gibt, ihren Glauben auszudrücken, bedeute das eine Vervollkommnung der Demokratie. Man wollte aber auch Stimmen fangen. Ein kurzsichtiges Kalkül und grundfalsch: Im Namen der Toleranz akzeptiert man bei den Muslimen das, was man bei den Katholiken vor einem Jahrhundert abgelehnt hat. Das wird als Verrat empfunden. Die Erste, die das begriffen hat, war Marine Le Pen.
Was denken Sie nun nach den Attentaten von Paris im November und Januar: Eskaliert der Terror?
Wir sind eine Stufe weiter. Das zeigt die Reaktion von vielen unserer Mitbürger. Die Leute sagen: „Warum wir?“ Anders gesagt: Man kann „verstehen“, dass jemand Charlie Hebdo angreift, weil er Mohammed „beleidigt“ hat. Man kann „verstehen“, dass Araber Juden töten, aber wir, was haben wir getan, um das zu verdienen? Die Leute verstehen, dass jeder, egal wer, getötet werden kann. Es reicht, Franzose zu sein.
François Hollande hat von einer „Kriegssituation“ gesprochen. Was denken Sie über diesen Begriff?
Ich lehne ihn ab. Wir haben es mit Mördern zu tun, nicht mit Soldaten. Mal abgesehen von ihrer Zahl, ihr Verhalten entspricht nicht der militärischen Norm. Der Krieg hat Gesetze. Sie haben keine. Das sind fanatisierte Jungs, denen wirklich der Verstand fehlt – ganz zu schweigen von der Moral. Die barbarischen Akte, die sie begehen, bereiten ihnen ein immenses Vergnügen. Stellen Sie sich vor: Einmal in ihrem Leben sind sie auf Seite eins.Das Credo ›Ich denke, also bin ich‹ wurde verdrängt von ›Ich glaube, also bin ich‹
Der IS wollte die „Hauptstadt der Unzucht und des Lasters“ angreifen. Steht unsere Lebensweise ab jetzt im Visier von Terroristen?
Es war ein Angriff auf die Hauptstadt des Vergnügens, aber auch auf die Hauptstadt eines Landes, wo die Rechte des Individuums unantastbar sind. Wenn es einen „Krieg“ gibt, dann hier, auf der ideologischen Ebene einer Gesellschaftskonzeption, die der IS den demokratischen Ländern entgegensetzt. Es besteht ein totaler Widerspruch zwischen ihren Werten und unseren: Wir sind für das Leben und die Freiheit, sie sind für Unterwerfung und Tod, wir sind für das Individuum und die Freuden des Lebens, sie verbreiten im Namen Gottes den Tod. Weil wir den IS bombardiert haben, wurden wir als Feinde betrachtet. Das musste gerächt werden. Aber abgesehen von dieser Rache verkörpert Frankreich in radikaler Form das westliche „Übel“.
Würden Sie dafür plädieren, die islamische Religion strengeren Kontrollen zu unterwerfen?
Seit Jahren rufe ich zu einem ernsthaften Kampf gegen den salafistischen Fanatismus auf. Ich fände es also normal, wenn die Moscheen geschlossen werden, wo Hass gepredigt wird. Diese Orte sind Brutstätten der Radikalisierung. Es muss kontrolliert werden, ob die Predigten, die dort gehalten werden, mit den Prinzipien unserer Republik konform gehen. Wenn das bedeutet, Imame auszubilden und die Religion zu kontrollieren, so habe ich nichts dagegen. Das ist das beste Mittel, die 95 Prozent Moslems zu schützen, die ruhig leben und den Salafismus nicht mehr aushalten. Man muss den Fanatismus an seiner Wurzel bekämpfen. Was die Idee von Nicolas Sarkozy angeht, alle in der Salafismus-Kartei gespeicherten radikalisierten Individuen unter Hausarrest zu stellen, noch bevor sie eine Straftat begangen haben, bin ich hingegen skeptisch und beunruhigt. Das ist ein erster schwerer Verstoß gegen die Demokratie. Wenn man den Sicherheitskräften alle Handlungsfreiheiten einräumt ohne die richterliche Macht als Gegengewicht, kann das sehr gefährlich werden. Im Namen einer illusorischen Sicherheit greift man die demokratischen Prinzipien an.
Werden die extremen politischen Parteien diese Ereignisse instrumentalisieren? Oder wird die nationale Einheit stärker sein?
Ich glaube nicht, dass es eine nationale Einheit gibt. Und die Gefahr sehe ich nur am rechten Rand. Wenn ich Olivier Besancenot (Politiker der linksradikalen Neuen Antikapitalistischen Partei, Anm. d. Red.) höre, wie er erklärt, dass es unsere Schuld sei, wenn wir angegriffen werden, bin ich baff.
Seit der Aufklärung hat man geglaubt, die Vernunft habe den Kampf gegen die Religion gewonnen. Warum hat sich das Blatt gewendet?
Das Credo ist an die Stelle des Cogito getreten. „Ich denke, also bin ich“ wurde verdrängt von „Ich glaube, also bin ich“. Warum? Der Westen hat alles radikal infrage gestellt: die Familie, die Heirat, das Geschlecht, die Nation und so weiter. Diese Infragestellung unserer am sichersten geglaubten Prinzipien hat viele in Unsicherheit gestürzt. Hinzu kommt die Wirtschaftskrise. Wenn die Welt, so wie sie ist, einen im Stich lässt oder misshandelt, wird man sich der Religion zuwenden – ein Opium, wie jemand anderes gesagt hat. Das bleibt wahr und gilt für Leute aus allen gesellschaftlichen Schichten. Schließlich gab es mit der Auflösung des Vaterlands das Gefühl eines Identitätsverlusts. Eine solide religiöse Praxis gibt einem wieder eine Gemeinschaft und eine Identität.
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