Forever young
Eine neue Modeästhetik breitet sich aus: Kidcore. Doch die Sehnsucht nach dem verlorenen Kindheitsparadies erweist sich als weniger unschuldig, als man auf den ersten Blick meinen könnte.
Erwachsene Menschen mit rosa Einhorn-Klebetattoos oder Ketten aus Kuscheltieren um den Hals: „Kidcore“ heißt das neue Phänomen, das Internet und Modewelt erfasst hat. Seinen Ursprung hat der Trend im ersten Jahr der Pandemie. Er führt zurück in eine 1990er-Jahre-Ästhetik, in der alles erlaubt ist, Hauptsache es ist schrill und bunt. Kitschige Plastikspielzeuge, Fimo-Ketten oder fröhliche Primärfarben wie Rot, Blau und Gelb bringen ein Stück heile Welt in die allgemeine Unsicherheit – wird doch die unbeschwerte Phase der Kindheit oft als eine Art verlorenes Paradies idealisiert.
Das war jedoch nicht immer so. Lange Zeit galten Kinder als kleine Erwachsene, die ganz selbstverständlich schon früh zu schweren Arbeiten herangezogen wurden. Erst der französische Aufklärer Jean-Jacques Rousseau forderte für Kinder einen Schutzraum, in dem sie sich frei entfalten können. In seinem erzieherischen Hauptwerk Émile oder Über die Erziehung beschreibt er ein ideales Aufwachsen in der Natur, abseits der Regeln und Gesetze der Zivilisation. Denn um in der Gesellschaft später bestehen zu können, müssten Kinder zunächst von zivilisatorischen Konzepten wie Eigentum oder Arbeit ferngehalten werden, die sie nur von ihrer Natur entfremdeten. Insofern könnte man den neuen Kindheitskult also als Wunsch nach einem Rückzug aus der kapitalistischen Leistungsgesellschaft verstehen. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich ein ambivalenteres Bild: Denn Kidcore fügt sich durchaus in die Logik des Marktes. Der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber bemerkt in der westlichen Konsumgesellschaft eine zunehmende Infantilisierung, die das protestantische Ethos der Sparsamkeit abgelöst hat. Dieser Trend wird durch die Marketing-Strategie global agierender Konzerne noch weiter angeheizt: „Durch die mediale Konstruktion permanenter Kindheit lassen sich auf der ganzen Welt die Konsumbedürfnisse von Teenagern mit der Kaufkraft Erwachsener verschmelzen.“ Denn die Eigenschaft, alles sofort haben zu wollen, macht Kinder – oder eben die neuen „kidults“, eine Mischung aus „kids“ und „adults“ – zu perfekten Konsumenten. Kidcore verbindet diese Aktivierung kindlichen Konsumverhaltens erfolgreich mit dem nostalgischen Versprechen einer heilen Welt. Vielleicht sollte man sich vorsorglich wieder ein wöchentlich begrenztes Taschengeld verordnen. •
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