Franz Josef Wetz: „Rilke macht im scheinbar Kleinen stets das Große ausfindig“
Heute ist Welttag der Poesie. Gleichzeitig feiern die Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke ihre 100-jährige Veröffentlichung. Im Gespräch mit dem Philosophen Franz Josef Wetz nähern wir uns dem anspruchsvollen Werk, das zum Kanon der Weltliteratur gehört.
Herr Wetz, eine vermeintlich einfache Frage zuerst: Wovon handeln die Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke? Sie beginnen mit einem ungeschrieenen Schrei und enden mit der letzten Wanderung eines Frühverstorbenen „in die Berge des Ur-Leids“. Was geschieht dazwischen?
Am Anfang steht die menschliche Überforderung durch die Schönheit, an deren Fülle wir zugrunde gingen, wenn wir ihr voll ausgesetzt wären: „das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang“. Deshalb soll man froh sein, am Schönen nur partiell teilhaben zu dürfen. Am Ende steht ein versöhnlicher Ausblick auf den Tod – die Zuversicht, in der All-Natur irgendwie fortzuleben, aus der man einst hervorging. Dazwischen vollzieht sich unser endliches Hiersein auf der Erde: Die Elegien wollen den Sinn für die Bewunderungswürdigkeit dieser Erde und die Außergewöhnlichkeit unserer Existenz schärfen. Dabei führen sie uns in poetischer Weise dicht an die Wirklichkeit heran. Sie versuchen das Verlangen nach der vollen Intensität des menschlichen Lebens zu befriedigen und das in poetischer Form. Auf eine Formel gebracht: Die Elegien gewinnen dem menschlichen Dasein eine hohe Intensität ab und verleihen den sichtbaren Dingen um uns herum eine starke Gegenwärtigkeit. Und das geschieht auf der Grundlage verfeinerter Beobachtungen.
Wie sehen die Beobachtungen aus?
Diese Beobachtungen beziehen sich auf die Dinge um uns herum, auf die Existenz des Einzelnen, aber auch auf den unaufhaltsamen Tod. Rilke macht im scheinbar Kleinen stets das Große ausfindig. Behutsam geht er beispielsweise auf die „Finsternis“ eines Kinderzimmers ein, in der das „Nachtlicht“ der Mutter „aus Freundschaft“ scheint, um dem Jungen die Angst zu nehmen. Oder wenn er zärtlich den Beginn einer Liebe besingt: „dieses Zimmer, der Frühling füllt sich mir dir“, deren Ende aber wie das Ende alles Menschlichen bereits in Sichtweite des Anfangs liegt: „Blühn und verdorrn ist uns zugleich bewusst.“
Wie sind denn die Duineser Elegien in das Gesamtwerk Rilkes einzuordnen?
Die zehn Elegien haben in seinem Schaffen eine herausragende Bedeutung. Rilke selbst nannte sie sein Hauptwerk. Die Elegien wurden innerhalb von elf Jahren erarbeitet und 1923 veröffentlicht. Die ersten beiden Elegien sind auf dem Schloss Duino bei Triest entwickelt. Aber deshalb heißen sie nicht Duineser Elegien. Die Überschrift ist eine als Ortsbezeichnung getarnte Würdigung seiner befreundeten Förderin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, der das Schloss gehörte. Rilke hat die Elegien immer wieder bei Seite gelegt und an verschiedenen Orten an ihnen gearbeitet. Das Besondere an den Elegien ist, dass, wie in keinem anderen Schaffen Rilkes, hier Poesie und Philosophie miteinander verschmelzen. Ich bezeichne sie deshalb auch gerne als Gedankenlyrik, in der philosophische Reflexionen mit existenziellen Erfahrungen auf eine einzigartige Weise vermischt werden. Sie werden im Übrigen auch allgemein als wichtigste Schrift Rilkes wahrgenommen, denn es gibt zahlreiche Haushalte, in denen sie in den Bücherregalen vertreten sind. Jedoch häufig unverstanden, weil sie eben nur mit viel Zeit und Muße für Leser zugänglich sind.
Und welche philosophischen Grundfragen werden in den Elegien behandelt?
Es sind zwei große Themenkomplexe, die im Text entfaltet werden. Das eine Thema umfasst das menschliche Leben selbst. Rilke arbeitet wichtige Facetten der menschlichen Existenz heraus, die von großer philosophischer Wertigkeit sind. Er geht zum Beispiel auf Liebe, Lust und Leidenschaft, den „Fluß-Gott des Bluts“ ein, aber auch auf Sterben, Tod und Abschied: „So leben wir und nehmen immer Abschied“. Rilke fasst den Menschen als ein sorgenreiches Lebewesen auf, dessen Dasein von Gefahren geprägt ist und sich immer mit einer Sinnfrage konfrontiert sieht. Er vergleicht uns Menschen mit „Fahrenden“, Straßensportlern. Deren Akrobatik „wringt sie, biegt sie, schlingt sie und schwingt sie“, ohne dass hierdurch etwas Sinnvolles zustande kommt: ein Sinnbild unseres meist beschwerlichen, sinnarmen Alltagslebens. In der von Sorgen geprägten Existenz steckt für ihn aber auch ein großer Gewinn. Denn der Mensch kann sich der Welt öffnen und wie kein anderes Lebewesen die Welt bewusst vergegenwärtigen. Das stellt für ihn die Einmaligkeit des menschlichen Lebens dar.
Neben den Grundfragen der menschlichen Existenz, was ist der zweite große Themenkomplex?
Der zweite Aspekt ist nun die Konzentration auf die Welt, speziell auf unsere Erde. Es ist im Übrigen sehr interessant, dass das unermessliche Universum, die zahllosen Sterne und Galaxien für ihn gar keine Rolle spielen. „Welt“ meint bei Rilke also besonders die Natur unseres Planeten, z. B. Tiere, Pflanzen, Bäume. Bei der Vergegenwärtigung dieser natürlichen Dinge wird er stark von der pantheistischen Lebensphilosophie geprägt. Die gesamte Natur verklärt er als etwas Göttliches. Die All-Natur stellt für ihn also ein göttliches Ganzes dar. Das ist natürlich eine Abkehr von einem traditionellen, christlichen Gottesbild. Gott, als jenseitiges Wesen gedacht, kommt in seinen Elegien nicht vor. Mit diesem Ansatz ist er ganz Kind seiner Zeit; die pantheistische Lebensphilosophie war zum Beispiel auch von Nietzsche inspiriert, dessen Gedanken er kannte.
Rilke schreibt davon, dass die Dinge uns „brauchen“. Wir, Erdenbürger, sollten diesem „brauchen“ nachspüren und so einem „Auftrag“ nachkommen. Was meint er genau damit?
Dieser Auftrag kann auf den ersten Blick für Verwirrung sorgen. Man will zunächst gar nicht verstehen, wer wem hier einen „Auftrag“ erteilt. Rilke schreibt davon, dass die sichtbaren Dinge um uns herum uns einen Auftrag erteilen. Der Auftrag besteht darin, dass die Dinge vergegenwärtigt, wahrgenommen werden möchten: „Erde ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar in uns erstehn?“ Das hört sich zunächst ein wenig kitschig an. Aber eigentlich geht es nur darum, dass die Natur und auch kulturelle Güter bestaunt werden wollen. Das folgt einer alten Idee.
Und welcher?
Der Idee, dass der Mensch das große Auge der Natur darstellt, das die Natur rühmen und würdigen kann. Das klingt abgehobener, als es ist. Schon Heinrich Heine schrieb einmal über Goethe: „Die Natur wollte bestaunt werden, da erschuf sie sich Goethe.“ Und der griechische Philosoph Anaxagoras – ein zweites Beispiel – vertrat die Auffassung, dass die Menschen auf der Erde weilen, um das Weltall zu schauen. Ich möchte es nüchtern herunterbrechen: Wir Menschen sind ein zufälliges Nebenprodukt der Evolution. Und als Nebenprodukt der Evolution sind wir mit einer Erkenntnisfähigkeit begabt, die es uns ermöglicht, mit dieser Welt besser zurecht zu kommen. Dabei hilft uns unser Gehirn. Die Erkenntnisfähigkeit, also ursprünglich ein Instrument menschlicher Selbsterhaltung, trägt jedoch zu einer überraschenden weiteren Begabung bei. Denn von Überlebenssorgen entlastet, können wir Phänomene der Natur und Kultur auch als solche hingebungsvoll bewundern, achtsam wahrnehmen. Wir sind also in der Lage einen Schritt zurückzutreten und Dinge fernab von unseren Daseinsinteressen ästhetisch wahrzunehmen. Diese Begabung kann uns zu intensiven Begegnungen mit der Wirklichkeit führen.
Und aus diesem Privileg erwächst schließlich der Auftrag an uns? Will uns Rilke zu Rühmenden erziehen?
Der Auftrag meint nichts weiter, als dass wir Menschen über die einmalige Chance verfügen, die Wirklichkeit als solche bewusst vergegenwärtigen zu können. Es ist nämlich ein Jammer, dass wir in der Regel so sehr in Routinen und Regeln verwickelt sind, dass die Bewunderung für die Dinge um uns herum vernachlässigt wird. Das wahre Leben stellt für Rilke also nicht das tätige, aktive Leben, sondern das kontemplative, betrachtende Leben dar.
Können Sie konkrete Beispiele für die Erfüllung des Auftrags nennen? Welche Dinge betrachtet Rilke im Text genauer?
Der Auftrag erfüllt sich nach Rilke schon, wenn wir im „Frühling“ einem auffliegenden Vogel nachschauen und seinem Zwitschern lauschen: „da ist keine Stelle, die nicht trüge den Ton der Verkündigung“ eines schönen Tages. Frühling und Sommer sind in der siebten Elegie herrlich beschrieben. Oder wenn wir, wie in der ersten Elegie, den Tönen einer Geige, die aus einem Fenster kommen, andächtig zuhören. Konkret heißt es: „Da du vorüberkamst am geöffneten Fenster, / gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag.“ Es genügen für Rilke also schon geringfügige Ereignisse und einfache Gegenstände, die uns diesen Auftrag erfüllen lassen. Wir sollten beachten, wie prachtvoll Berge und Seen sind, aber auch so etwas wie dem Wechsel der Jahreszeiten sollten wir Aufmerksamkeit schenken und noch vieles mehr. Er denkt dabei aber nicht nur an Naturphänomene, sondern er nennt auch vortechnische Erzeugnisse, wie das Haus oder den Brunnen, aber auch an ältere Denkmäler der Kulturgeschichte, also Kathedralen, Tempel. In diesem Zusammenhang verklärt Rilke geradezu nostalgisch die Vormoderne, um der entzauberten Moderne zu entfliehen. Doch rückwärts gewandte Sehnsüchte verformen das Gewesene, das so, wie es sentimental idealisiert wird, nie Gegenwart war. Schon Romantiker, etwa Novalis, beschönigten das Mittelalter wie unsere Klassiker, etwa Schiller, die Antike.
Wodurch haben uns Liebende, Kinder und Tiere bei der Erfüllung des „Auftrags“ etwas voraus?
Diese drei Gruppen sind gegenüber dem Alltagsmenschen im Vorteil, denn sie gehen in dem, was sie sind, vollkommen in der Gegenwart auf. Sie leben eben in einer Wirklichkeit, die voll gesättigt ist mit intensiven Gegenwartserfahrungen. Gleichzeitig sind sie nicht von Sorgen oder einer beschwerlichen Vergangenheit belastet. Kinder, Liebende und Tiere symbolisieren eine erfüllte Leichtigkeit, die uns Menschen im normalen Leben zumeist verstellt ist. Der Alltagsmensch ist von einer gedeuteten Welt umgeben und denkt in Kategorien und Regeln. Ihm gelingt diese fast schon mystische Versenkung in die Wirklichkeit in den häufigsten Fällen nicht. Obwohl hier hinzufügt werden muss, dass zumindest Rilkes Darstellung des Tieres mindestens aus biologischer Perspektive natürlich vollkommen falsch ist. Trotzdem können auch wir Durchschnittsmenschen der prallen Intensität der Wirklichkeit hin und wieder in Augenblicken faszinierter Nachdenklichkeit ein Stück weit näher kommen.
Rilke stand neuerer Technik bekanntlich sehr skeptisch gegenüber. In der neunten Elegie nennt er sie „Tun ohne Bild“. Lässt sich das kontemplative, betrachtende Leben im digitalisierten Anthropozän überhaupt noch verfolgen, in dem die Natur immer mehr durch menschliche Neuerungen und Erzeugnisse zurückgedrängt bzw. zerstört wird?
Seine ästhetische Technikkritik ist zwar poetisch gut nachvollziehbar, aber überholt. Er spricht davon, dass die kalten Apparate keine Aura mehr aufkommen lassen, das erinnert ja auch an Walter Benjamin. Dass jemand ein poetisches Loblied auf sein Smartphone oder digitale Fertigungssysteme der Automobilindustrie anstimmt, mag man sich tatsächlich schwer vorstellen. Rilke interessiert also nicht die Gefährdungen durch neuere Techniken, sondern der fehlende ästhetische Wert von Maschinen und Apparaten. Seine Technikkritik ist deswegen eine ästhetische Technikkritik, die mit der heutigen Kritik nicht kompatibel ist. Wir verbinden mit der modernen Technik heute andere Probleme als bloß ästhetische; meist geht es da sogar um die Gefährdung der Menschheit und weitere sehr gewichtige Probleme. Rilke ist sicherlich ein Philosoph gewesen, der uns ans Herz legen möchte, der Einzigartigkeit der Natur innezuwerden. Er wäre mit Sicherheit, würde er heute noch leben, ebenso sehr besorgt um den Klimawandel gewesen.
In unserem neuen Heft setzt sich das Philosophie Magazin mit Zukunftsvisionen auseinander, unter anderem mit dem Metaversum. Das Metaversum ist eine virtuelle Welt, in die ich mithilfe einer VR-Brille eintauchen kann. Nehmen wir diesen interessanten Extremfall und gehen wir davon aus, dass Menschen immer mehr Zeit in programmierten virtuellen Welten verbringen. Kann in einer solchen Welt ein Auftrag, wie ihn Rilke verfolgt, wahrgenommen werden? In einer Welt, die rein von Menschen erdacht bzw. gemacht ist?
Rilke würde das wahrscheinlich verneinen; es braucht für ihn eine Wirklichkeitsperspektive im Sinne eines Erdbezugs. Auch meiner Meinung nach wächst in einer technisierten Welt kompensatorisch der Sinn für die analoge Natur. Je mehr unsere Welt digitalisiert wird, umso mehr wird auch unser Bedürfnis wachsen, in der echten Natur Zeit zu verbringen. Bei aller Technikfreundlichkeit zieht es die Menschen trotzdem weiterhin in die Natur. Sie suchen, auch wenn es häufig touristisch überformt daherkommt, die reale Natur. Der Mensch ist nach Rilke also sehr erdbezogen. Er erfreut sich vor allem an der realen Natur, dem Aufkommen der Blumen im Frühling, an einem Sommergewitter ebenso wie dem Morgengrauen, der Mittagsstille, Abenddämmerung und einer ruhigen Nacht unter funkelndem Sternenhimmel. Deswegen glaube ich, dass er kein Verfechter virtueller Welten gewesen wäre.
Wie standen Rilkes Erfahrungen der politischen Wirklichkeit zum Werk? Gab es in der Schaffensperiode Ereignisse, die ihn besonders geprägt haben? Zum Beispiel der Erste Weltkrieg?
Interessanterweise der Erste Weltkrieg fast gar nicht. Das kann man ihm auch zum Vorwurf machen. Rilke war kein besonders politischer Mensch. Man muss sagen, dass er ein unpolitischer Ästhetizist war, der den sozial-politischen Nutzen seiner Dichtkunst bestritten hat. Er zog existenzielle Ergriffenheit politischem Engagement vor. Die damalige Welt lag in so vielen Beziehungen im Argen. Daraus kann schon der Vorwurf erwachsen, dass Sozialkritik, d.h. die Beanstandung gesellschaftlicher Missstände, viel angemessener gewesen wäre, als die Natur als Sensation zu feiern. Aber trotzdem würde ich sagen: Die Kehrseite kontemplativer Weltfrömmigkeit ist nun einmal politische Weltfremdheit, aber auch sie ist ein Anliegen eigenen Rechts. Denn trotz aller Nöte um uns herum sollten wir auch Fragen zulassen, die den tieferen Sinn unseres Daseins betreffen.
Sie haben es in ihrem Lesekompass durch die Elegien, Das Fest der gewöhnlichen Dinge, geschafft, Rilkes Text für ein breites Publikum zu entschlüsseln. Dabei versehen Sie Rilkes Werk nicht einfach mit einem Textkommentar, sondern erzählen jede Elegie im literarischen Stil nach. Was meinen Sie, warum machte es uns Rilke so schwer, ihn zu verstehen? Und worin liegt der große Wert seiner poetischen Sprache?
Da kann man einfach antworten: Naja, er schrieb einfach so; das war seine Art und sein Stil. Doch der Vorteil dieser Art des Schreibens liegt darin, dass man nicht mit nervöser Hast den Text überfliegen kann. Diagonales Lesen funktioniert nicht. Eine Lektüre ist nur durch langsame, tiefe Aneignung möglich. Aber dann gewinnt man sehr viel, dann können die Elegien elektrisieren. Das Lesen der Elegien gleicht dann keinem Erlebnis mehr, sondern einer echten Erfahrung. Rilke war ein Angler, der sich mit einem Köder an den See stellte, aber sich nicht um die Frage scherte, ob der Köder denn auch den Fischen schmeckt. Aber trotzdem: Da die Elegien so großartig sind, ist es natürlich schade, dass sie so schwer zugänglich sind. Aus diesem Grund schrieb ich das Buch. Da habe ich erkannt, dass der Text, wenn man sich mit ihm auseinandersetzt, sehr eindeutig verfasst und streng komponiert ist.
Zeigt sich heute, am Welttag der Poesie, einmal mehr, dass Literatur eine ideale Vermittlerin philosophischer Ideen sein kann? Kann sie vielleicht sogar etwas poetisch in Worte fassen, wozu die Philosophie nicht in der Lage ist, sodass ihr ein eigener Erkenntniswert zugesprochen werden muss?
Das hängt natürlich von den Erkenntnissen ab, die man vermitteln möchte. Aber eine große Menge theoretischer Reflexionen kann gewinnbringend in ästhetische Rezeptionen übersetzt werden. Das Besondere ist einerseits, die Dinge zu erkennen, und sie andererseits für sich anschaulich werden zu lassen. Aus abstrakten Denkformen werden dann konkrete Erfahrungen geschaffen. Es gibt zahllose gelungene Beispiele hierzu. Man denke da zum Beispiel an Goethe und Schiller. Gerade Schiller war auch Philosoph und hat in seinen Gedichten und Tragödien seine Philosophie zur Darstellung gebracht. Ähnliches gilt, wenn auch abgeschwächt, für Goethe.
Und weitere Beispiele?
Da wäre zudem auch der mittlere Schelling, der sogar im System des transzendentalen Idealismus schreibt, dass die Poesie die bessere Philosophie sei. Dazu passend aber auch die Romantiker: Novalis, Friedrich Schlegel und herausragend Hölderlin: Hyperion und seine Dichtungen; wie eng Kunst und Philosophie zusammenhängen, betonen auch Schopenhauer und Nietzsche, dessen Also sprach Zarathustra ja ein Mischwerk aus Philosophie und Poesie ist. Weiter darf man an Gottfried Keller denken, der in seinem Grünen Heinrich Ludwig Feuerbach ein Denkmal setzt wie Thomas Mann in den Buddenbrooks Arthur Schopenhauer. Nicht zuletzt betrifft das auch die französischen Existenzialisten. Hier seien besonders hervorgehoben Sartre mit seinem Roman Der Ekel und Camus mit seinem Roman Der Fremde, in denen sie die Grundthesen des modernen Existenzialismus in eine literarische Handlung gießen.
Warum sollte 100 Jahre nach der Veröffentlichung der Duineser Elegien das Werk mehr in die Öffentlichkeit gerückt werden?
Wir leben in einer Zeit, in der Wissenschaft und Technik dominieren. Dadurch neigen wir dazu, die Poesie zu einer schönen Nebensache werden zu lassen, weil sie sich einer ökonomischen, sozialen oder politischen Verwertung häufig verweigert. Wenn man sich auf Rilkes Poesie einlässt, dann steht sie für sich selbst. Wer sich in den Text hineinwagt, für den wird sich gar nicht mehr die Frage stellen, ob die Erschließung des Textes der Mühe wert ist. Seine Ergriffenheit bewahrt ihn vor Zweifeln am eigenen Tun.
Und was zeichnet den hohen Stellenwert des Textes für unseren konkreten heutigen Lebenskontext aus?
Unser Leben ist geprägt von einem rasanten Bedeutungsverlust der Religion und einem Bedeutungszuwachs des Digitalen. Da wächst die Gefahr, dass wir die verblüffende Existenz der Wirklichkeit zu schnell als Selbstverständlichkeit abtun und wir deswegen die Wirklichkeit vorschnell als sinnlos und absurd dramatisieren. Im Gegensatz dazu macht uns Rilke darauf aufmerksam, dass die angemessene Haltung gegenüber den Dingen um uns herum im faszinierenden Staunen liegen sollte. In diesem Staunen liegt eine unglaubliche Lebensbejahung in unserer Zeit nach dem Tode Gottes. Darin findet sich der große Wert für uns heute. Selbst wenn es keine großen metaphysischen Kräfte mehr gibt, ist die Wirklichkeit weder trivial noch sinnlos. Rilke stellt heraus, dass der Mensch die Begabung hat, diese Wirklichkeit als solche wahrzunehmen; sie also gerade in der jetzigen Zeit zu bestaunen.
Sie sprechen vom „Staunen“. Das ist ja auch seit Jahrtausenden der Grundauftrag der Philosophie, nicht wahr?
Sehr richtig. Das ist der Grundauftrag der Philosophie. So heißt es ja schon bei Pythagoras, dass das Staunen der Anfang jeder Philosophie sei. Aber selbst Aristoteles und Platon sprechen beim Staunen vom Anfang der Philosophie, das aber mit dem Erklären der Dinge nachlässt. Staunen wird hier also aufgefasst als Initiator, der zu höherer Erkenntnis lediglich motiviert. Reines Staunen wurde deswegen auch als Unwissenheit bezeichnet. Bei Rilke kommt es nun darauf an, dass wir uns das Staunen über alle Erklärungen hinweg bewahren sollten, weil die Wirklichkeit immer ihre Erstaunlichkeit behält.
Haben sich andere Philosophen von Rilkes Schaffen beeinflussen lassen? Wie wurde das Werk in der Philosophie rezipiert?
Es gibt zwar eine große Anzahl von Schriften über Rilke und seine Dichtung - hauptsächlich von Literaturwissenschaftlern. Die Philosophen aber haben sich bislang nur wenig damit befasst. Ein wenig Martin Heidegger, dann vor allem Otto Friedrich Bollnow und Romano Guardini. Das sollte einen nicht verwundern, gilt doch Rilke hauptsächlich als Lyriker und nicht als Philosoph, obgleich seine Werke philosophisches Potenzial enthalten.
Welcher Vers aus den Elegien hat Sie denn persönlich am meisten geprägt?
Meine liebste Stelle, eine Art poetische Fuge, findet sich in der neunten Elegie: „Ein Mal jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nichtmehr. Und wir auch ein Mal. Nie wieder. Aber dieses ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal: irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.“
Darin klingt Hölderlin an. Nicht wahr? „Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! Und einen Herbst zu reifem Gesange mir (…) Einmal lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.“
Ja, da haben Sie völlig recht. Die Übereinstimmung ist schon verblüffend. Ob Rilke diese wunderbaren Zeilen kannte, wissen wir nicht. Nachweislich hat Rilke Hölderlin sehr geschätzt: „Sein Einfluss auf mich ist groß und großmütig, wie nur der des Reichsten und innerlich Mächtigsten sein kann.“ •
Franz Josef Wetz ist Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Er ist Autor zahlreicher Bücher, Aufsätze und Radio-Features. Neben „Das Fest der gewöhnlichen Dinge. Lesekompass durch Rilkes Duineser Elegien“ (2021) sind zuletzt erschienen: „Tot ohne Gott. Eine neue Kultur des Abschieds“ (2018), „Keine Liebe ohne Lüge. Wieviel Ehrlichkeit verträgt eine Beziehung“ (2020) und „Tod, Trauer, Trost. Was am Ende hilft“ (2022).
Weitere Artikel
Das Mögliche und das Wirkliche
Worauf kommt es an, wenn die Sehnsucht nach dem Neuen erwacht, während gleichzeitig unklar ist, wo es zu suchen wäre? Die Zukunft ist gerade deshalb offen, weil nicht alles zu jeder Zeit möglich ist, sondern es stets aus dem Wirklichen hervorgeht. Das Neue gebiert sich stets aus dem Zusammenspiel von Ich und Umwelt, aus der Kombination von Selbstschöpfung und Inspiration.

Kafka als Zeichner
Franz Kafka schrieb nicht nur Weltliteratur, wie ein Band mit seinen Zeichnungen enthüllt. In diesen Werken zeigt sich der Humor des großen Schriftstellers. Dieser Text ist zuerst bei Monopol erschienen.

Rainer Forst: "Tolerieren können wir nur, was wir falsch finden"
Was ist Toleranz und wo wäre die Grenze des Tolerierbaren zu ziehen? Rainer Forsts Philosophie zielt ins Zentrum unserer von religiösen und politischen Konflikten geprägten Zeit. Ein Gespräch über Rassismus, Pegida und die heikle Balance zwischen Indifferenz und Duldung
María Zambrano
In unserer Rubrik Klassiker weltweit stellen wir prägnant Philosophen vor, die in anderen Teilen der Welt als Klassiker gelten, hierzulande allerdings weniger bekannt sind. Diesmal: María Zambrano (1904-1991), Antifaschistin, Exilantin und Denkerin der „dichterischen Vernunft“.

Rainer Forst: „Solidarität ist kein Wert an sich“
Durch Flaggen, Appelle oder Konzerte bekunden derzeit viele ihre Solidarität mit der Ukraine. Doch was ist Solidarität überhaupt? Der Philosoph Rainer Forst plädiert dafür, Solidarität auf der gemeinsamen Menschenwürde zu gründen, und mahnt, dass der Begriff als ideologische Fabrikation gerade in Kriegszeiten auch eine Gefahr sein kann.

Arbeit am Mythos
Hundert Jahre Hans Blumenberg: Zum Geburtstag des Autors der Höhlenausgänge ordnen drei Bücher das Werk eines Philosophen ein, der sich stets im Hintergrund hielt

Am Anfang ist das Staunen
Was macht große Ideen aus? Sicherlich nicht die Größe derer, die sie haben. Das zeigt sich etwa im österreichischen Vorarlberg, wo wir eine Gesprächsrunde mit 14 kleinen Philosophen besucht haben. Hier wird deutlich, was das kindliche Denken so besonders macht: eine Mischung aus wahrhaftigem Staunen, blitzartiger Erkenntnis und dem Fehlen von Selbstverständlichkeiten.

Eva-Maria Ziege: „Die Barbarei der Nazis verstehen“
Die „Dialektik der Aufklärung“ ist der wohl faszinierendste und eigenartigste Text der Kritischen Theorie. Doch ist er auch dicht und entzieht sich einem leichten Zugang. Die Soziologin Eva-Maria Ziege erklärt die Entstehungsgeschichte und die Grundbegriffe des legendären Klassikers
