Gibt es ethischen Voyeurismus?
Lassen uns Bilder von Tod und Leid mit den Betroffenen mitfühlen, bringen uns vielleicht sogar ins Handeln? Oder bedienen sie lediglich unsere Sensationslust? Für Judith Butler ist unsere Trauer ein mächtiges politisches Instrument, das es klug einzusetzen gilt.
2015 wurde der zweijährige kurdische Alan Kurdi tot am Strand in der Türkei angespült; er ertrank im Mittelmeer bei seiner Flucht aus Syrien, ein Schicksal, das allein im vergangenen Jahr über 2000 Geflüchtete vor den Grenzen Europas ereilte. Das Bild verbreitete sich rasant im Internet und machte weltweit Schlagzeilen. Alans Tod wurde zum Symbol für die Fluchtbewegung 2015 und entfachte, wenn auch nur zeitweise, Mitgefühl für das Leid Geflüchteter. Doch es dauerte nicht lange, bis das Foto in neuen Kontexten auftauchte. So bediente sich beispielsweise die PARTEI im Zuge ihres jüngsten Wahlkampfes in Berlin an dem Motiv, um ein Wahlplakat daraus zu machen. Darauf ist Alan Kurdis Foto abgebildet, mit dem Slogan „Sozialtourist?“. Eine Anspielung auf Friedrich Merz' Vorwurf an ukrainische Geflüchtete, „Sozialtourismus“ zu betreiben.
Alan Kurdis Foto und die mediale Rekontextualisierung, die danach stattfand, ist kein Einzelfall. Fotografie spielt in der Krisen- und Kriegsberichterstattungen schon seit Jahrzehnten eine fundamentale Rolle, Bilder sind für uns Beweise, dass das, wovon da berichtet wird, auch tatsächlich passiert ist. Auch Alan Kurdis Bild gehört dazu, seine Familie floh vor dem Krieg in Syrien, sein Tod zeigte, was dieser Krieg bedeuten kann. Das Aufkommen sozialer Medien und die Verbreitung von Smartphones hat unsere Wahrnehmung vom Krieg stark verändert. Das Internet ermöglicht es uns nicht nur bei der Morgenroutine unseres liebsten Influencers oder der Reise unseres Schwagers dabei zu sein, sondern auch hautnah vom gemütlichen Sofa aus die Tötung eines Diktators wie Gaddafi mitzuerleben.
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