Judith Butler: „Einige Leben für das Wohl aller zu opfern, erscheint mir faschistisch“
Was hat uns die Pandemie über die Welt offenbart? So fragt Judith Butler im aktuellen Buch und entwickelt ein intersubjektives Verständnis von Freiheit. Aber zu welchem Preis? Ein Gespräch über Zero Covid, amerikanischen Kapitalismus und die Suche nach neuen sozialistischen Ideen.
Wie nur wenige Personen in der akademischen Philosophie ist Judith Butler weit über die Grenzen der Disziplin hinaus als theoretischer Popstar bekannt. Butlers berühmtestes Werk Gender Trouble erschien im englischen Original 1990 mit dem Ziel, den damaligen Feminismus für ein Geschlechterbild zu kritisieren, das nur die zwei Kategorien Mann und Frau anerkennt. Für diese Theorie wird Butler gleichermaßen als Ikone der queeren Bewegung gefeiert wie von Konservativen und Rechten angefeindet. In den vergangenen Jahren hat sich Butler mit Gewaltlosigkeit, jüdischer Ethik, gegenseitiger Abhängigkeit und dem Wert des Lebens beschäftigt. Auch in Butlers Buch „What world is this?“ ist das Thema unsere Verletzlichkeit, die durch die Pandemie sicht- und spürbar wurde. Doch wie weit kann und sollte der Lebensschutz gehen? Eine Frage, die nicht zuletzt mit Blick auf die Zero-Covid-Politik in China Brisanz erhält. Das Philosophie Magazin hat Butler zu einem persönlichen Gespräch in New York getroffen.
Philosophie Magazin: Judith Butler, der Titel Ihres neuen Buches lautet: What world is this? Was ist das für eine Welt, in der wir leben? Warum haben Sie sich diese Frage gestellt?
Judith Butler: In der Zeit der Lockdowns und der Distanz ist mir klar geworden, was wir bisher alles für selbstverständlich hielten: Menschen zu küssen und zu umarmen, die wir lieben, Nähe zu Fremden, der Austausch von Atem und Luft. Wir waren plötzlich in unseren Gesten eingefroren wie Figuren in einem Brecht-Stück, die kurz vor der Umarmung innehalten. Wir haben alle mit unerfüllten Sehnsüchten gelebt. Wir mussten unser Verständnis davon erneuern, was ein gewöhnliches Leben ist. Wir mussten neu begreifen, was das für eine Welt ist, in der wir leben.
Sie versuchen das mithilfe der Phänomenologie. Diese Denkströmung stellt die Erfahrung des Subjekts in den Mittelpunkt. Wie kann sie uns helfen, die Welt zu verstehen?
Zu Beginn der Pandemie bin ich auf ein Zitat aus Max Schelers Aufsatz Zum Phänomen des Tragischen gestoßen, das mich sehr angesprochen hat. Scheler schreibt, dass ein tragisches Ereignis nie für sich steht, sondern immer auch etwas über die Welt aussagt, in der ein solches Ereignis möglich ist. Durch das Eintreffen des tragischen Ereignisses stellt sich die gewöhnliche Welt als eine andere heraus als die, für die wir sie hielten.
Als was für eine Welt hat sie sich herausgestellt?
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Kommentare
Einige Leben auf verschiedene Kosten aller zu retten erscheint mir oft sinnvoll.