Goethe und Wintersonnenwende
Gerade liegt die längste Nacht des Jahres hinter uns. Von nun an beginnen die Tage wieder länger zu werden. Ein Wendepunkt, den auch Johann Wolfgang von Goethe jedes Jahr sehnsüchtig erwartet haben soll.
Johann Wolfgang von Goethe litt, wie uns Zeitgenossen berichten, zwischen dem Winteranfang und der Sonnenwende sehr. „Ich höre, daß [Goethe] jedes Jahr die Wochen vor dem kürzesten Tage in deprimierter Stimmung zu verbringen und zu verseufzen pflegt“, bezeugt der Dichter Johann Peter Eckermann (1792-1854) in seinen Gesprächen mit Goethe. In einer Aufzeichnung aus dem Dezember 1823 heißt es entsprechend: „Ich fragte Goethe, wie es ihm gehe.“ Dieser soll darauf geantwortet haben, dass er sich besser halte als „Napoleon auf seiner Insel“. Sein kränklicher Zustand, so Eckermann, scheint die Lebensgeister des Freundes immer mehr zu beeinträchtigen. Der Philosoph Elme-Marie Caro (1826-1887), der sich mit Goethes Philosophie auseinandergesetzt hat, beschreibt den Naturwissenschaftler und Schriftsteller als einen Menschen, der sich in „geheimnisvoller Verbindung mit der Natur“ befunden habe, deren „geheimes Leben er so tief empfand.“ Pointiert fasst er die intensive Wetterfühligkeit Goethes so zusammen: „Er verwelkt, wie die Welt um ihn herum verwelkt. Seine Kräfte schwanden mit der schwindenden Sonne“.
Offenbar änderte sich jedoch am Tag der Wintersonnenwende jedes Jahr aufs Neue alles für Goethe, wie Eckermann in seinem Eintrag zum 21. Dezember 1823 berichtet: „Goethe hatte heute seine gute Laune wiedergefunden. Wir haben den kürzesten Tag des Jahres erreicht, und die Hoffnung, dass nun jede Woche die Tage rasch zunehmen, scheint auf ihn den glücklichsten Einfluss auszuüben: ‚Heute feiern wir die Wiedergeburt der Sonne‘, rief er freudig aus, als er mich heute Morgen in sein Haus treten sah.“ Auch in Caros Schriften lässt sich ein solcher Umschwung erkennen: „Die gute Laune, die Gesundheit, die ganze Aktivität seines Geistes, sein ganzes Genie war wie durch Zauberhand zurückgekehrt. Die bösen Hirngespinste waren zerstreut; der Winter und die Nacht waren aus seiner Seele entflogen; er fühlte sich mit der Sonne wiedergeboren.“ Wenn wir diesen Aufzeichnungen also Glauben schenken dürfen, blieb auch einer der größten deutschen Dichter von saisonaler Niedergeschlagenheit nicht verschont.
Mit der gestrigen Wintersonnenwende ging der kürzeste und dunkelste Tag des Jahres vorüber, das Herz der kalten Jahreszeit, wenn man so möchte. Doch sie markiert auch einen Wendepunkt: Ab heute kehrt Tag für Tag mehr Licht in unser Leben zurück. Das Licht, das den Kampf gegen die Nacht zu verlieren schien, wird nun mehr und mehr die Oberhand gewinnen. Ist das nicht eine hoffnungsvolle Gewissheit in Zeiten, in denen viele Sicherheiten schwinden? •
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