Hartmut Rosa: „Ich will den Modus unseres In-der-Welt-Seins ändern”
Hartmut Rosa ist ein Meister in der Analyse moderner Entfremdungsdynamiken. Der Jenaer Soziologe bringt kollektive Gefühle und Sehnsüchte so präzise wie eigenwillig auf den Begriff. Ein Gespräch mit einem Denker, für den sein Schreiben immer auch Selbstergründung ist.
Herr Rosa, Sie sind in Lörrach geboren, haben in Freiburg studiert. Ist Ihre Herkunft prägend für Ihr Denken?
Lörrach war weniger prägend, aber der Ort Grafenhausen, wo ich aufgewachsen bin, liegt auf dem letzten Höhenzug des Hochschwarzwalds mit dem Blick auf die gesamte Alpenkette. Als Jugendlicher bin ich oft stundenlang gelaufen, um auf einen Berg zu kommen, von dem ich wusste, dass ich dort eine besonders gute Sicht habe. Dieses Schwarzwalddorf bringt eine ganz andere Zeitlichkeit mit sich als eine große Stadt wie London, wo ich während des Studiums gelebt habe. Deshalb ist Grafenhausen bis heute ein Sehnsuchtsort geblieben, an den ich regelmäßig zurückkehre. Übrigens wohnte Martin Heidegger keine 20 Kilometer entfernt, sein Werk Sein und Zeit steht sicher in Zusammenhang mit Erfahrungen, die auch mir vertraut sind.
Wobei auffällt, dass Heidegger in Ihren Büchern eigentlich keine Rolle spielt.
Das stimmt, und das, obwohl es sicher eine Verwandtschaft im Denken gibt. Ich habe mein Studium in Freiburg begonnen, wo es jede Menge Heideggerianer gab. Eigentlich ausschließlich. Das hätte mir die Lust an der Philosophie fast verdorben. Zum Glück bin ich dann an die London School of Economics gekommen, habe viel Karl Marx und Max Weber gelesen. Dort bin ich auch auf den kanadischen Philosophen Charles Taylor gestoßen, über den ich dann promoviert habe.
Charles Taylor, der leidenschaftliche Kant-Kritiker und große Identitätstheoretiker. Was hat Sie an Taylor fasziniert?
Taylor hat eine sehr ähnliche Weise des Denkens und Schreibens, er geht von Alltags- und Selbstbeobachtungen aus. In seinem Hauptwerk Quellen des Selbst will er wissen: Was sind die Ursprünge unseres Selbst- und Weltverhältnisses? Es ist dieses gemeinsame Nachdenken darüber, wo wir herkommen, wo wir hingehen, wer wir sind, das mich unglaublich fasziniert hat. Auch die Verbindung von scharfem analytischem Denken und phänomenologischer Analyse beeindruckt mich bis heute. Die beiden Aufsätze aber, die mich wirklich zum Taylorianer gemacht haben, waren „Neutralität in der politischen Wissenschaft“ und „Interpretation und die Wissenschaft vom Menschen“. Dort legt er dar, was Wissenschaft leisten kann, was sie für uns als Menschen und als Gesellschaft bedeutet.
Wenn man Ihre Bücher liest, hat man den Eindruck, dass sich hier ein Mensch auch selbst besser zu verstehen versucht. Begreifen Sie Ihre Arbeit auch als eine ganz konkrete Form der Selbstergründung?
Unbedingt. Introspektion, das Sich-selbst-Befragen, ist durchaus eine legitime Form des empirischen Forschens. Ich mache meine Stimme hörbar und verstecke sie nicht hinter irgendwelchen Daten, die nichts mit mir zu tun haben. Ich setze mich, wenn ich schreibe, aufs Spiel. Gleichzeitig muss ich mich natürlich ständig irritieren lassen: Oh, hier gibt es Menschen, die erfahren es anders. Da ist ein Aspekt, den ich übersehen habe. Hier ist eine Frage, über die habe ich noch gar nicht nachgedacht. Und natürlich erhebe ich den Anspruch an meine eigenen Theorien, dass sie mehr sind als nur subjektiv.
Ihr Buch, mit dem Sie bekannt wurden und das Ihr Nachdenken über eine gelungene Weltbeziehung systematisch vorbereitet hat, ist Beschleunigung aus dem Jahr 2005. Wie lautet Ihre Analyse der Moderne im Kern?
Es handelt sich bei der Moderne um eine Gesellschaftsform, die sich nur dynamisch stabilisieren kann. Das heißt, dass sie der Steigerung bedarf, um sich in ihrer Struktur zu erhalten. Wir müssen ökonomisch wachsen, wir müssen beschleunigen, wir müssen Effizienz steigern, um das zu erhalten, was wir haben – also Arbeitsplätze zum Beispiel. Diese Logik, dass eine Gesellschaft sich nur durch Steigerung erhalten kann, hat immense Fortschrittsmöglichkeiten eröffnet. Das Sozialprodukt, das wir erwirtschaften, ist unfassbar groß. Und natürlich sind auch die medizinischen, die technischen Möglichkeiten fantastisch.
Und wo ist das Problem?
Die Dynamik hat sich längst zu einem leer laufenden Steigerungszwang entwickelt. Wir müssen immer noch draufsatteln, auch ohne dass es eine erkennbare Notwendigkeit gibt. Wir brauchen nicht immer mehr Chipssorten oder noch mehr iPhones, aber wir müssen Wachstum erzielen! Dadurch hat sich im Zuge der Modernisierung etwas Fundamentales verkehrt. 200 Jahre lang waren Menschen in der modernen Welt der Überzeugung, dass, wenn sie hart arbeiten, es die Kinder einmal besser haben werden. Heute sagen Eltern, sie müssten alles tun, was sie können, damit es den Kindern nicht schlechter geht, damit sie nicht zurückrutschen auf der sozialen Leiter. Schon den kleinen Kindern wird im Prinzip eingeimpft, dass sie alles tun müssen, um mithalten zu können, um wettbewerbsfähig zu sein. Diese Wachstumslogik formt unsere Weltbeziehung auf eine sehr spezifische Weise.
Womit wir bei Ihrem Buch Resonanz wären, in dem Sie eine, so lautet der Untertitel, Soziologie der Weltbeziehung entwickeln.
Ja, und zwar basierend auf der Beobachtung, dass die Welt in der beschleunigten Moderne zu einem Aggressionspunkt wird. Diese Steigerungsleistung, die systematisch erzwungen wird, führt dazu, dass wir in einer Daueranspannung der Welt gegenübertreten: Ich muss das kaufen, ich muss jenes erledigen, ich muss das abarbeiten. Und dann hat auch noch meine Frau Geburtstag! Selbst das eigentlich Schöne wird zu etwas, das man abhaken muss. Das ist dann der Punkt, an dem es wirklich gefährlich wird, da sind sich alle Psychologen einig. Als Soziologe der Weltbeziehung beschreibe ich die Lage so: Der moderne Aggressionsmodus lässt uns resonanzunfähig werden.
Was meinen Sie damit genau?
Resonanzfähig sein heißt, in eine Beziehung zur Welt zu treten. Sich von ihr anrufen und verwandeln zu lassen. Zum Beispiel, indem ich die Berge betrachte oder die Sterne. Vielleicht erlebe ich Resonanz aber auch in einem Gespräch oder bei einer zufälligen Begegnung. Da spricht mich etwas an. Berührt mich. Und wenn ich mich wirklich darauf einlasse, weiß ich nicht, wie lange es dauert und was dabei herauskommt. Das heißt, die Resonanzerfahrung ist ergebnisoffen, ich mache mich verwundbar und verletzbar. Adorno hatte dafür schon einen sehr guten Blick: Wirkliche Erfahrung birgt ein Moment des Überwältigtwerdens, des Autonomieverlusts. Und das können wir uns eigentlich nicht erlauben. Wir müssen als moderne Leistungsträger schnell und zielstrebig auf Optimierung zielen, müssen Prozesse kontrollierbar, verfügbar machen. Resonanz aber wohnt notwendigerweise Unverfügbarkeit inne. Sich darauf einzulassen, ist deshalb unter dem Vorzeichen des Steigerungszwangs schier irrational.
Dem Phänomen der Unverfügbarkeit haben Sie Ihr jüngstes Buch gewidmet und damit Ihre Theorie der Weltbeziehung unter einem ganz bestimmten Blickwinkel erhellt.
Resonanz lässt sich nun mal nicht intentional herstellen, auch wenn wir genau das ständig versuchen. Ein schönes Beispiel ist unvermutet einsetzender Schneefall, mit dem mein Buch beginnt. Fast alle Menschen kennen das aus ihrer Kindheit, wie sich die Welt verwandelt, wenn es plötzlich und ganz unverhofft anfängt zu schneien. Und dann stellen wir fest, dass wir diese Verwandlung gerade nicht unter Kontrolle haben – gerade darin liegt ihre Schönheit. Und wenn wir Schnee in die Hand nehmen, da sieht und fühlt man, was Unverfügbarkeit heißt: Er zerrinnt uns unter den Fingern. Und wenn wir ihn in die Tiefkühltruhe legen, dann hört er auf, Schnee zu sein. Und wenn wir ihn künstlich herstellen, durch Schneekanonen zum Beispiel, verliert er seinen Zauber. Ähnliches erleben Sie auf einer Safari oder einer Kreuzfahrt, wenn Menschen unbedingt mit Natur in Kontakt treten wollen, aber auf eine sehr kontrollierte Weise: Der Tiger soll bitte pünktlich um drei Uhr zum Fototermin bereitstehen. Und lieber ein bisschen Abstand halten zu fremden Kulturen. Bloß nicht zu viel Nähe, denn wer weiß, was dann passiert …
Das erinnert an Odysseus bei Homer, wie er sich an den Mast fesseln lässt, um dem verführenden Sirenengesang nicht zu verfallen. Für Adorno und Horkheimer war Odysseus der Inbegriff des modernen Subjekts.
Na ja, Odysseus vernimmt den Gesang aber immerhin, genießt ihn in vollen Zügen, lässt sich anrufen. Wir sind auf dem besten Wege, den Gesang gar nicht mehr zu hören.
Dies ist die dialektische Pointe, die Sie in Unverfügbarkeit entwickeln: Wenn wir uns die Welt verfügbar machen, sie kontrollieren und bezwingen, zieht sie sich umso mehr zurück, erkaltet auf beängstigende Weise.
Genau. Die Welt wird uns unverfügbar in vielerlei Hinsicht. Nehmen Sie den Klimawandel. Die Erosion der Natur, die wir nicht mehr als resonantes Gegenüber erfahren, sondern als schwindende Welt.
„Lebendigkeit entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren“, so schreiben Sie. Aber muss das nicht zynisch klingen aus der Sicht eines Menschen, der sich nicht zu Hause fühlt im eigenen Körper? Oder keine Kinder kriegen kann?
Zunächst einmal: Wann immer man versucht, auf solche Grundfragen kategoriale Antworten zu finden im Sinne von: „Es ist immer falsch, sein Geschlecht anzupassen“ oder „Es ist immer falsch, künstliche Befruchtung vornehmen zu lassen“, sitzt man schon in der Falle. Das ist im Grunde selbst resonanzfeindlich. In dem Moment, wo man versucht, Dinge festzuschreiben, ist man schon raus aus dem Resonanzmodus. Genauso fragwürdig aber ist es, von vornherein im Verfügbarkeitsmodus an das Problem heranzugehen: „Ich fühle mich nicht zu Hause im eigenen Körper? Dann baue ich ihn um!“ Im Einzelfall kann man natürlich zu dem Schluss kommen, dass eine Operation die einzige Lösung ist. Doch vorangehen muss dem ein Hören und ein Antworten. Ich muss die richtige Antwort finden in der Art, wie ich lebe, in der Art, wie ich auf mich reagiere, vielleicht auch, indem ich die Frage stelle, was mir zum Beispiel eine ungewollte Kinderlosigkeit eigentlich sagen will. Die Antwort kann künstliche Befruchtung sein, aber sie muss es nicht sein. Auf Grundfragen des Lebens im Resonanzmodus zu reagieren, ist fundamental. Ansonsten besteht die Gefahr, das eigene Leben zu verfehlen.
Die amerikanische Intellektuelle Susan Sontag würde Ihnen vehement widersprechen: Der Krebs wollte ihr nichts sagen, war keine Metapher für irgendetwas, sondern reine Kontingenz.
Natürlich gibt es Kontingenzen. Aber wenn wir alles als kontingent und zu beseitigende Störung betrachten, wenn wir dem Leben rein im Modus technischer Machbarkeit begegnen, gelingt menschliche Lebensführung nicht.
Andererseits muss ich, um überhaupt mit Dingen in ein resonantes Verhältnis treten zu können, sie überhaupt erst einmal in Reichweite bringen, oder?
Sicher. Wer nicht bei Facebook ist, steht möglicherweise nicht im Kontakt zu seinen früheren Klassenkameraden und kann also auch kein resonantes Verhältnis aufbauen. In einer Welt aber, in der alles nur einen Klick weit entfernt ist, werden wir doch schon allein mit unserer eigenen Beschränktheit konfrontiert. Der Tag hat eben nur 24 Stunden, und auch unsere Aufmerksamkeit hat Grenzen. Ich kann nicht dauernd mit allen möglichen Leuten kommunizieren. Was sich im Übrigen schon daran zeigt, dass Menschen Glückserfahrungen doch gerade dann machen, wenn die Reichweite begrenzt ist. Warum sonst verbringt so mancher seinen Urlaub im Kloster, ohne Fernsehen und Internet. Die Welt schrumpft, Erreichbarkeit schrumpft und da stellt man plötzlich fest: Da intensiviert sich Zeiterfahrung.
Sie behaupten noch mehr: Reichweitenbegrenzung und Unverfügbarkeit seien die Quellen unserer Libido. Indem die Moderne alles in Reichweite zu bringen versuche, ziehe sie „den libidinösen Stecker“.
Ja, denn unser Begehren richtet sich immer auf das Unverfügbare. Auf das, was ich nicht völlig unter Kontrolle kriege. Eine vollständig verfügbar gemachte Welt wäre folglich eine, in der wir nichts mehr begehren würden. Aber es geht nicht nur um das Begehren. Es geht auch um die Erfahrung von Glück. Ein gutes Beispiel ist der russische Pianist Igor Levit, der gefragt wird, ob er der Mondscheinsonate überhaupt noch etwas abgewinnen kann, wenn er sie doch schon tausendmal gespielt hat. Und Levit sagt, ja, er kann die Sonate immer wieder spielen. Denn je häufiger er sie spielt, desto mehr hat er das Gefühl, dass sie sich ihm entzieht, sich ihm widersetzt. Sie klingt jedes Mal anders, etwas darin bleibt unverfügbar, und Levit sagt wörtlich: „Das macht mich glücklich.“ Er hofft, immer wieder von vorne anzufangen und nie an ein Ende zu kommen.
Worum aber geht es Ihnen am Ende? Darum, dass jeder seine eigene kleine Resonanzinsel in Form eines Klosteraufenthalts oder Schrebergartens findet?
Natürlich will ich mehr. Ich will auf gar keinen Fall die Verantwortung aufs Individuum abschieben im Sinne von: Streng dich halt an und werde resonanter! Man kann ja nicht ganz grundsätzlich im Alltagsverzweiflungsmodus sein und dann plötzlich in einen ganz anderen Modus umschalten, in dem sich bitte schön Resonanz einstellen soll. So funktioniert es nicht. Wir müssen uns vielmehr fragen: Was genau wäre denn eine resonante Gesellschaft? Meine Antwort lautet: Eine, die auch in ihren zentralen Institutionen eine Resonanzorientierung verwirklicht. Genauer: Ich versuche zu skizzieren, was die Realisierung eines Gemeinwohls bedeutet, bei der die Gesellschaft als Ganzes resonant verbunden ist – mit der Natur, mit der eigenen Geschichte, mit anderen Gemeinwesen, mit denen wir in Kontakt stehen. Deshalb ziele ich auf mehr als individuelle kleine Wohlfühloasen.
Können Sie ein konkretes Beispiel geben?
Nehmen Sie unseren Umgang mit Tieren, da kann man das Auseinanderfallen in Wohlfühloase und resonanzfeindliche Realität schön beobachten. Wir haben einerseits die Haustiere, die wir als reine Resonanzquellen benutzen, den Hund oder die Katze. Auf der anderen Seite steht die Massentierhaltung, stehen die Versuchstiere im Labor. Die totale Verdinglichung also. Hier ist die ganze Tragödie der Moderne wie im Brennglas zu beobachten. In der ökologischen Tierhaltung ist es anders. Natürlich werden Tiere auch hier genutzt. Aber sie tragen auch einen Namen. Oder nehmen Sie den Bereich Bildung. Bildungsprozesse funktionieren überhaupt nicht, wenn sie keine Resonanzprozesse sind. Und deshalb sollte man Schule so gestalten, dass es nicht nur um Kompetenzvermittlung geht, sondern um ergebnisoffene, resonanzorientierte Interaktion. Dasselbe gilt für die Pflege. Oder den Umgang mit Geflüchteten.
Aber wenn das innerste Funktionsprinzip unseres Wirtschaftssystems die Steigerung ist – wie wäre eine resonante Kultur jenseits von Instrumentalisierung zu verwirklichen?
Wir haben es heute in der Tat mit einer totalen Entbettung der Wirtschaft zu tun. Niemand investiert in neue Maschinen, eine neue Fabrik oder ein Geschäft, ohne die Aussicht, dass mehr Geld rauskommt als reingesteckt wurde. Diese Logik radikalisiert sich in den Finanzmärkten, wo in Sekundenbruchteilen immer wieder versucht wird, Gewinne zu erwirtschaften. Der Steigerungszwang ist zum Subjekt des Geschehens geworden. Gleichzeitig meine ich, dass Wettbewerb und Märkte eine wichtige Funktion haben können, aber sie müssen durch eine Wirtschaftsdemokratie, deren Grundlage die Verwirklichung von Resonanz ist, ganz klar eingehegt werden.
Geht es Ihnen eher ums Bewahren oder ums Verändern? Anders gefragt: Würden Sie sich selbst als konservativ bezeichnen?
Ich will nie etwas retten, nur weil es immer schon so war. Mir geht es auch nicht um Werte oder Leitplanken, schon gar nicht um das Bewahren an sich. Sondern ich will radikal danach fragen, was denn mein und dein Leben zu einem guten Leben macht. Radikaler formuliert: Ich will den Grundmodus unseres In-der-Welt-Seins ändern. Und das ist nicht konservativ, sondern revolutionär. •
Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt. In seinen Arbeiten analysierte er die Beschleunigungs- und Entfremdungseffekte der Spätmoderne und legte in seinem Buch „Resonanz. Soziologie einer Weltbeziehung“ (Suhrkamp, 2016) dar, wie das moderne Subjekt in eine erfüllende Beziehung zur Welt treten kann.
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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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Es ist stockdunkel und absolut still. Ich liege auf dem Rücken, meine gefalteten Hände ruhen auf meinem Bauch. Wie zum Beweis, dass ich noch lebe, bewege ich den kleinen Finger, hebe ein Knie, zwinkere mit den Augen. Und doch werde ich, daran besteht nicht der geringste Zweifel, eines Tages sterben und wahrscheinlich genauso, wie ich jetzt daliege, in einem Sarg ruhen … So oder so ähnlich war das damals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und mir vor dem Einschlafen mit einem Kribbeln in der Magengegend vorzustellen versuchte, tot zu sein. Heute, drei Jahrzehnte später, ist der Gedanke an das Ende für mich weitaus dringlicher. Ich bin 40 Jahre alt, ungefähr die Hälfte meines Lebens ist vorbei. In diesem Jahr starben zwei Menschen aus meinem nahen Umfeld, die kaum älter waren als ich. Wie aber soll ich mit dem Faktum der Endlichkeit umgehen? Wie existieren, wenn alles auf den Tod hinausläuft und wir nicht wissen können, wann er uns ereilt? Ist eine Versöhnung mit dem unausweichlichen Ende überhaupt möglich – und wenn ja, auf welche Weise?

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