Winnicott und das Spielen
Das Spiel gilt uns heute gemeinhin als Zeitvertreib mit festen Regeln und Gesetzen. Für den Psychoanalytiker Donald W. Winnicott ist das Spielen etwas ganz anderes: nämlich ein sinnlicher Modus.
Gibt es Kinder, die nicht spielen? Die des Spielens nicht fähig sind? Der britische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Woods Winnicott (1896–1971) wurde zusammen mit seiner Kollegin und späteren Frau Clare Britton (1906–1984) im Zweiten Weltkrieg auf diese Frage gestoßen. Die beiden behandelten Kinder, die wegen andauernder Bombenangriffe evakuiert und von ihren Familien getrennt werden mussten oder diese in den Angriffen verloren hatten. Viele von ihnen hatten die Fähigkeit zum Spielen verloren. Auf Grundlage ihrer Beobachtungen entwickelte Winnicott gemeinsam mit Britton eine Theorie des Spielens, welche das Spielen als wesentlich für den gesunden, freien Menschen versteht und ins Zentrum der psychotherapeutischen Beziehung stellt. Dabei stellten sie heraus, wie sehr das Spielen von einem sorgenden Umfeld, also von Care-Arbeit, abhängt und wie es im Gegensatz steht zur Logik der unmittelbaren Wunschbefriedigung, die der Kapitalismus heute verspricht.
Für Britton und Winnicott vollzieht sich im Spielen der Austausch zwischen dem Innenleben des Kindes und seiner Außenwelt. Wenn dieser Austausch unmöglich wird, entweder weil das Kind seine inneren Bedürfnisse nicht äußern kann oder weil die Außenwelt eine Gefahr darstellt, wird das Spielen unmöglich. So beschreibt Britton Kriegskinder, die ständig mit dem Versuch beschäftigt waren, ihre unberechenbar gewordene Umwelt mit zwanghaften Handlungen zu sichern; oder Kinder, deren Bedürfnisse nicht wertschätzend wahrgenommen wurden und die sich deswegen in sich verschlossen und in Fantasien flüchteten. Die eine Gruppe war komplett auf die Kontrolle der Außenwelt fokussiert, die andere auf die Kontrolle der Innenwelt – zum Austausch zwischen innen und außen kam es in beiden Fällen nicht und so auch nicht zum Spielen.
Aber Winnicott stellt das Spielen nicht nur in den Vordergrund der Kinderpsychoanalyse, sondern auch der Erwachsenenanalyse. Ob kindlicher oder erwachsener Patient: Es geht ihm in der Psychotherapie darum, Menschen zu befähigen, einem Gegenstand, einer Person und der Welt mit offenem Ausgang begegnen zu können, verschiedene Möglichkeiten auszuprobieren, auch Risiken einzugehen – kurzum, zu spielen – und sich mit Freude statt Angst zu fragen: Wie wird mein Gegenüber auf mein Tun reagieren? Wie wird dies die Situation verändern? Auf welche neuen Ideen und Handlungen werde ich wohl gebracht? Die Beweglichkeit, die dieses Spielen impliziert, ist der Horizont einer gesunden Entwicklung. In seinem Schlüsselwerk Vom Spiel zur Kreativität (1973) schreibt Winnicott, dass die Analyse „den Patienten aus einem Zustand, in dem er nicht spielen kann, in einen Zustand bringen (soll), in dem er zu spielen imstande ist.“ Hierin liegt die Radikalität von seinem Denken, das den Autoritarismus der klassischen Psychoanalyse untergräbt: Es geht Winnicott nicht darum, den Patienten durch eine wahre Deutung seiner Symptome zu heilen. Vielmehr will er ihm die Erfahrung eröffnen, dass nichts festgeschrieben ist. Der Patient soll sich von der Vorstellung lösen, es gäbe eine Wahrheit über sich selbst und seine Vergangenheit und das Leiden nähme ein Ende, sobald er diese, wie einen Heiligen Gral, gefunden hat. Stattdessen erfährt der kindliche wie auch der erwachsene Patient im spielerischen Austausch mit der Analytikerin, dass viele Verhaltens-und Lebensweisen möglich sind. Der Patient kann sich so von – mehr oder weniger bewussten – fixen Ideen über sich selbst lösen.
Verwunderung als Therapie
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Einfache Registrierung per E-Mail
- Im Printabo inklusive
Hier registrieren
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Wer ist mein wahres Selbst?
Kennen Sie auch solche Abende? Erschöpft sinken Sie, vielleicht mit einem Glas Wein in der Hand, aufs Sofa. Sie kommen gerade von einem Empfang, viele Kollegen waren da, Geschäftspartner, Sie haben stundenlang geredet und kamen sich dabei vor wie ein Schauspieler, der nicht in seine Rolle findet. All diese Blicke. All diese Erwartungen. All diese Menschen, die etwas in Ihnen sehen, das Sie gar nicht sind, und Sie nötigen, sich zu verstellen … Wann, so fragen Sie sich, war ich heute eigentlich ich? Ich – dieses kleine Wort klingt in Ihren Ohren auf einmal so seltsam, dass Sie sich unwillkürlich in den Arm kneifen. Ich – wer ist das? Habe ich überhaupt so etwas wie ein wahres Selbst? Wüsste ich dann nicht zumindest jetzt, in der Stille des Abends, etwas Sinnvolles mit mir anzufangen?
Die Sache mit dem Puzzeln
Spielend das Ganze zusammensetzen ist nicht nur Zeitvertreib, sondern auch der älteste Menschheitstraum überhaupt, meint Wolfram Eilenberger.

Amia Srinivasan: „Hier könnte ein feministisches Bewusstsein wachsen“
In Fällen sexueller Belästigung oder Ausbeutung folgt schnell der Ruf nach schärferen Gesetzen. Die Philosophin Amia Srinivasan bezweifelt, dass Strafrechtsparagrafen das Geschlechterverhältnis regeln können, und plädiert für ein radikales Hinterfragen von Denkmustern.

"Wird die Kraft des Verbots überschätzt, Frau Müller-Mall?"
Nein heißt Nein, Burkaverbot: Immer öfter münden Debatten in einen Ruf nach verschärften Gesetzen. Wie ist das zu erklären? Und was kann das Recht wirklich regeln?
Foucault und die Selbstsorge
Selbstsorge: Das klingt nach Wellness und Achtsamkeitsübungen. Michel Foucault verstand jedoch etwas ganz anderes darunter. Mit Rückgriff auf die asketischen Praktiken der Antike entdeckte er eine „Ästhetik der Existenz“, in der es darum geht, der eigenen Persönlichkeit eine kunstvolle Form zu geben.

Jan-Werner Müller: "Das Gemeinwohl ist etwas anderes als der Wille aller"
Die Internetplattform der Fünf-Sterne-Bewegung trägt den Namen „Rousseau“. Was die Philosophie des Aufklärers über die Politik der Populisten verrät, erklärt Jan-Werner Müller im Gespräch
Feier der Differenz
Der sogenannte „Differenzfeminismus“ wurde oft als problematische Essenzialisierung von Weiblichkeit kritisiert. Beim „Feminismus der sexuellen Differenz“ aus Italien geht es aber um etwas anderes: um einen Freiheitsbegriff, der sich im Alltag bewährt.

Die Flut, eine Kulturkatastrophe
Hochwasser und Überschwemmungen kosten Menschenleben und richten materielle Schäden an. Zu ihren fatalen Folgen gehört aber auch noch etwas anderes, das sich buchstäblich nicht beziffern lässt – und Gemeinschaften unwiederbringlich verändert.
