Helden des Nichttuns
Im gesellschaftlichen Krisenfall feiern wir oft jene, die rettend eingreifen, wenn das Unheil schon passiert ist: Ärzte, Forscherinnen, Feuerwehrleute. Zu Recht. Doch fallen dabei anerkennungstheoretisch alle jene unbesungenen Heldinnen und Helden unter den Tisch, die durch bewusstes Unterlassen das Unglück erst gar nicht haben entstehen lassen. Gerade in Zeiten der Pandemie gilt deshalb: ein Hoch auf das Nichttun!
Steigen derzeit in vielen Ländern die Corona-Infektionszahlen wieder rapide an und baut sich auch in Deutschland die zweite große Welle der Pandemie auf, ist zur Verhinderung eines erneuten Shutdowns nicht nur das konsequente Einhalten der AHA-Regeln (Abstand halten – Hygiene beachten – Alltagsmaske tragen) geboten, sondern es bedarf ganz offensichtlich auch einer stärkeren Präventionsmentalität. Sprich: Ein gleichermaßen kollektives wie geschärftes Bewusstsein für ein vorausschauendes Handeln zur Verhinderung einer unkontrollierten Virus-Ausbreitung. Und das bedeutet vor allem, bestimmte Dinge, die in vorpandemischen Zeiten selbstverständlich oder zumindest nicht unüblich waren, nicht zu tun. Also möglichst nicht auf (allzu ausschweifende) Partys zu gehen, nicht jeden zu umarmen, sich nicht mit Schnupfen in die U-Bahn zu setzen, nicht fortlaufend Tinder-Dates aufzusuchen, nicht in Risikogebiete zu fahren.
Dass solch ein Nichttun vielen Menschen immer schwerer zu fallen scheint, was etwa die rasant steigenden Fallzahlen in Berlin und die dadurch jüngst nötig gewordenen Verschärfungen der Corona-Regeln verdeutlichen, mag vornehmlich damit zu tun haben, dass hierzulande die Todeszahlen nach über einem halben Jahr Pandemie immer noch relativ niedrig sind. Nach dem Motto: „Seht ihr, so schlimm ist's ja gar nicht“. Nun ist das freilich ein Fehlschluss, der auf dem Präventionsparadox gründet. Das heißt: Gerade weil die Prävention funktioniert, die Pandemie also eingedämmt wurde, entsteht der Eindruck, dass man Vorkehrungsmaßnahmen nicht mehr bräuchte, weil ja alles halb so wild sei. Es gerät also aus dem Blick, wie wichtig auch und vor allem das Unterlassen von bestimmten Handlungen ist. Das wiederum hat damit zu tun, dass präventives Nichttun maximal unspektakulär wirkt, ja von Dritten oft gar nicht einmal als solches wahrgenommen wird. Oder wie es im Englischen so passend heißt: „There's no glory in prevention“.
Ernstfallverbot
Grund genug eigentlich, dem Unterlassen zu seinem gebotenen Recht und seiner nötigen Anerkennung zu verhelfen. Denn im Krisenfall bringen moderne Gesellschaften in der Regel nur jenen Anerkennung entgegen, die rettend eingreifen, wenn das Unglück schon passiert ist. Also Ärztinnen und Krankenpflegern, Feuerwehrleuten, Polizisten, tatkräftigen Politikern und engagierten Forscherinnen. Keine Frage: Diese Anerkennung haben sie auch verdient, sie sollte ihnen natürlich nicht genommen werden. Allein bleiben dabei die unbesungenen Heldinnen und Helden des Unterlassens auf der Strecke, die dafür sorgen, dass Unglücke, Katastrophen, Fehler, Leid oder Komplikationen gar nicht erst passieren, weil sie jenen kategorischen Anti-Imperativ verinnerlicht haben, den Wilhelm Busch einst auf den Punkt brachte: „Das Gute – dieser Satz steht fest – / ist stets das Böse, was man läßt.“
Dabei gibt es für die Feier des Nichttuns, was eben keineswegs ein Nichtstun ist, bereits eine Art theoretische Blaupause. Diese zieht sich durch die Schriften des Kulturtheoretikers Bazon Brock, der immer wieder eine „Ästhetik des Unterlassens“ stark gemacht hat. So konstatiert er in Der Barbar als Kulturheld etwa: „Wie ein Tun als Unterlassen betrieben werden kann und in die Geschichtsbuchschreibung auch jene großen Ereignisse eingehen können, die nicht geschahen (wie in der erfolgreichen Bekämpfung des Terrors), das üben wir in der Praxis der Künste; in der Beschränkung, heißt es dort, liegt erst die Meisterschaft; less is more, less irritation is more clarity.“
Wobei diese „Ästhetik des Unterlassens“, genau besehen, gleichzeitig auch immer eine Ethik darstellt. So identifiziert Brock den fortlaufend notwendigen Akt gesellschaftlicher Zivilisierung in folgendem Dreiklang: „das Ernstfallverbot (Null-Tote-Doktrin), die Selbstfesselung (Stärke und Besitz verpflichten zur Verantwortung), das Handeln als Unterlassen (Du sollst nicht omnipotenzkindisch oder machtwahnsinnig, also realitätsblind werden ...)“. Und derlei offenbart sich nicht nur in Zeiten der Pandemie als entscheidend, sondern ist von ganz allgemeiner Relevanz. Und zwar auf allen Ebenen. Man denke nur daran, wie viel Leid, Ärger und Probleme einem schon ganz persönlich erspart geblieben sind (oder eben: wären), weil man diese eine Nachricht nicht abgeschickt, sich diesen Satz verkniffen oder diese Handlung unterlassen hat (oder eben: hätte).
Ausbleibender Erstschlag
Und erst recht auch auf gesellschaftlicher Ebene: Wie viel Unheil ist gar nicht erst passiert, weil Menschen sich noch rechtzeitig besonnen haben, um etwas nicht zu tun. Und wie viel Leid wurde abgewendet, weil meist unbekannt gebliebene Berater wichtigen Entscheidungsträgern den größten Unsinn gerade noch rechtzeitig ausgeredet haben. Man denke aktuell nur an das Weiße Haus, wo, so beschreiben es Philip Rucker und Carol Leonnig in ihrem Buch „A Very Stable Genius“, nach wie vor eine Reihe von verfassungstreuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Trump-Administration ihren Dienst vor allem deshalb nicht quittiert haben, um täglich zu verhindern, dass der US-Präsident noch größeren Schaden anrichtet. In einer Welt, in der immer öfter geballte Inkompetenz an der Macht sitzt und Einfluss sich zunehmend kaufen lässt, wird das Verhindern von Handlungen zur heroischen Tugend. Oder wie Brock bereits 1990 in Re-Dekade konstatierte: „Heutzutage kann jeder kapitalkräftige Hanswurst (...) ein Atomkraftwerk bauen; es zu verhindern, verlangt Genie, Durchhaltevermögen und Überzeugungskraft.“
Ob also mit oder ohne Pandemie: Es gilt den gleichermaßen unzähligen wie unbekannten Heldinnen und Helden des Unterlassens zu gedenken, die sich selbst oder andere vor grobem Unfug bewahren – meist ohne, dass es jemand mitbekommt. Wobei es historisch dann doch einen großen Helden des Nichttuns gibt, der – mit gehöriger Verspätung – zu wohlverdientem Ruhm gekommen ist: Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow. Am 23. September 1983 hatte der Oberstleutnant der Luftwaffe vertretungsweise Dienst in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung. Als die Computer zunächst einen amerikanischen Atomwaffenangriff meldeten, kurze Zeit später noch einen zweiten, dritten, vierten und fünften, tat Petrow in den zwölf Minuten, die bis zum vermeintlichen Einschlag blieben das entscheidende: nämlich nichts. Er leitete keinen atomaren Gegenschlag ein und verhinderte somit womöglich den dritten Weltkrieg. Es stellte sich heraus, dass er mit seiner Intuition recht behalten hatte. Die Angriffsmeldungen waren ein Fehlalarm, da das sowjetische Satellitensystem Sonnenreflexionen auf Wolken irrtümlich für amerikanische Raketenstarts gehalten hatte. Auch das zeigt: Nichttun kann leben retten. Und zwar sehr viele. •
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