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Bild: Pablo Arenas (Unsplash)

Kleine Philosophie des Schreis

Clara Degiovanni und Octave Larmagnac-Matheron veröffentlicht am 11 August 2022 6 min

Mit einem Schrei kommt das Neugeborene auf die Welt. Es ist die Stimme aus einer vorsprachlichen Zeit, eine Kommunikation ohne Idee. Im Erwachsenenalter wird er oft als Zeichen für den Verlust der Selbstkontrolle gesehen. Wenn man dem Schreienden aber genau zuhört, entdeckt man, dass aus ihm die tiefste Form der menschlichen Revolte spricht. 

 

Der Schrei ist Zeugnis der menschlichen Existenz. Durch ihn verschaffen wir uns Platz in einer Welt, in der wir zuvor noch keinen hatten. Weil er roh ist, ist der Schrei mächtig. Er geht unserer Form des Sprechens voraus und ist Ausdruck einer primitiven Sprache der Emotionen, die später durch die Entwicklung der artikulierten Sprache politisiert und abgeschwächt wird. Wie Rousseau in seinem Essay über den Ursprung der Sprachen feststellte, sind die lebhaftesten Ausrufe in allen Sprachen unartikuliert; Schreie und Stöhnen sind einfache Rufe. Schon das Kind gibt seine Stimme ab, noch bevor es Ideen formuliert.

 

Der Schrei des Schmerzes

 

Der primitive Schrei ist der Schrei des Kindes und der unzähmbaren Animalität im Menschen. Indem es schreit, entledigt sich das Individuum eines Teils seiner selbst, seiner sozialen Identität und wird in die Wildheit zurückgeführt. Es ist der blinde Schrei des Tieres, das von der Tyrannei des Instinkts mitgerissen wird. In seinem Roman 1793 – Das Jahr des Schreckens berichtet Victor Hugo ausführlich über den Schrei einer Wölfin, den seine Figur Michelle Fléchard ausstößt, als sie ihre Kinder inmitten eines Feuers gefangen sieht. Dieser „unnennbare Jammerschrei“ veränderte die Mutter völlig. Angesichts der Angst, ihre drei Kinder zu verlieren, überkommt sie plötzlich eine „grausige Verzweiflung“. Dieser Schrei der trauernden Mutter ist ein Schrei ohne Antwort, der von seinem eigenen Echo noch verstärkt wird. Er ist der herzzerreißendste Schrei überhaupt, den man ganz allein in der Stille der Nacht ausstößt. Dieser einsame Schrei ist besonders furchteinflößend, da er auf einfache und rohe Weise das ganze Unglück des Schreienden zum Ausdruck bringt.  

Der Schrei ist somit untrennbar mit dem Schmerz verbunden, der den Ausrufenden überflutet und durch nichts eingedämmt werden kann. Wie der Schmerz, kann auch dieser Schrei nicht unterdrückt werden. Trotz Scham oder Unbehagen zeigt der Ausrufer Emotionen, die er vielleicht lieber verborgen hätte. Der französische Ethnologe und Autor Michel Leiris spricht in diesem Zusammenhang von einer Obszönität des Schreis, der den Mantel des Schweigens zerreißt und das ganze Grauen, das sich im Inneren des Ausrufenden zusammengebraut hat, entblößt. Obszön ist der Schrei, weil er sich seinem Gegenüber aufdrängt und eine schnelle Antwort ohne rationale Argumente fordert. Dabei kann es auf diese Art des Schreis keine wirklich angemessene Antwort geben. Auf einen wütenden Schrei, der zumeist als Schrei des reinen Wahnsinns wahrgenommen wird, folgt oft ein langes Schweigen der Verlegenheit oder Herablassung, ein ohrenbetäubendes Schweigen der Scham. In diesem Sinne schreibt der Psychoanalytiker Jacques Lacan: „Der Schrei wird vom Raum des Schweigens durchquert, [...] er bildet den Abgrund, in den das Schweigen sich stürzt.“

 

Der Schrei der Stille

 

Schreien und Schweigen sind keine Gegensätze. Sie stehen sich nicht auf jene Art gegenüber, wie es die Geschwätzigkeit und das Schweigen tun. Beide sind gleichsam Teile der Einsamkeit. Der Schrei hallt unaufhörlich in der Stille wider, die ihm folgt und oftmals noch viel schrecklicher ist als der Schrei selbst. Der rumänisch-französische Philosoph Emil Cioran beschreibt die Stille als nicht mehr als ein ersticktes Wehklagen. Mit Henri Michaux lässt sich sogar sagen, dass der Schrei seinen eigenen Ursprung verdecken soll, der nicht zum kontrollierbaren Bewusstseinsteil des Ausrufenden gehört. Der punktuelle Schrei, der dem Leiden eine Stimme verleiht, kommt aus den Tiefen des eigenen Inneren, auf den wir selbst keinen Zugriff haben.  

In gewisser Weise ist die Gewalt des Schreis eine Reaktion auf die irreduzible Gewalt der Welt, mit der wir vom Augenblick der Geburt an konfrontiert sind. „Wie einer von tosenden Wellen an den Strand geworfener Seemann“ erfüllt der Säugling „den Raum“ mit seinem „kläglichen Wimmern“. Als wolle es das Leid, von dem ihm das Leben so viel bereithält, abwenden, schreibt Lukrez in „Über die Natur der Dinge“. Cioran erhebt den Menschen seinerseits in den Rang des Unheilbaren. Für ihn sind wir wunde Materie, schreiendes Fleisch mit von den Schreien zerfressenen Knochen und auch unser Schweigen ist nicht mehr als ein ersticktes Klagen. Ein besonderes Zeugnis für den mit dem Leben verbundenen Schmerz sind die Schreie der alten Menschen, deren Körper unter einem Übermaß an Leben leiden. Aus ihnen schreit das ganze Gewicht der menschlichen Existenz, die zu stützen versucht wird, obwohl sie unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbricht. 

Der existenzielle Schrei verweist auf die immense Zerbrechlichkeit des Menschen. Für den Philosophen Emmanuel Lévinas entblößt er seine Nacktheit, seine Fremdheit in der Welt und seine Einsamkeit. Der Mensch schreit den in seinem Wesen verborgenen Tod und sein schambehaftetes Elend heraus. Für den Dichter René Char ist der grausamste Schrei jedoch der stimmlose, der nur noch von den Augen ausgestoßen wird. So steht noch dem Geknebelten sein Schrei unverkennbar ins Gesicht geschrieben.

 

Der Schrei der Revolte

 

Der Schrei verleiht den unsagbaren Dingen einen Ausdruck. Er gehört zum Unaussprechlichen, das die Sprache von innen aushöhlt und bricht aus einer Lücke jenseits der Worte hervor. Der Schrei des Erstaunens verweist auf seine schwindelerregende Dimension. Er ist der unmittelbare Ausdruck der Überraschung, der einem entfährt, noch bevor man die Gründe für seine Überraschung formulieren kann.  

Wenn uns die Worte fehlen, schreien wir und können so das Unsagbare benennen. Gilles Deleuze attestiert auch dem Philosophen ein Bedürfnis zu schreien, das einer Art Ruf der Philosophie entspringt. Sein Schaffen ist dabei eine nie vollendete Antwort auf diesen Ruf. Der Schrei stellt die in sich geschlossene Welt der Bedeutung in Frage und fordert ihre Deklassierung und ihre immerwährende Offenheit. Durch ihn kann sich die Sprache neu erfinden.

Durch den Schrei widersetzt sich der Mensch dem Willen zum System. Sein Schrei ist ein Sprechakt, der nicht in einer immer zu engen und zu generischen Sprache erstarrt. Er führt den Sinn jenseits seiner Fixierung in einer unpersönlichen, von der Schrift absorbierten Sprache zurück zu seiner lebendigen Quelle, der verkörperten Stimme. Auch Heidegger bemerkte, dass die Schrift den Schrei leicht erstickt. In diesem Sinne kann es gefährlich und unehrlich sein, den Schrei in Worte übersetzen zu wollen. Der Schrei kämpft gegen alle ideologischen Einschließungen, die vorgeben, die Wirklichkeit vollständig umfassen zu können. Er erinnert daran, dass jedes in sich geschlossene System in Wirklichkeit unfähig ist, sich selbst zu begründen, und dass es letztlich auf einer absurden Aporie beruht. „Ich rufe, dass ich an nichts glaube und dass alles absurd ist“, schreibt Camus „aber ich kann an meinem Ausruf nicht zweifeln, und zum mindesten muss ich an meinen Protest glauben. Die erste und einzige Gewissheit, die mir so im Innern der absurden Erfahrung gegeben ist, ist die Revolte […] Die Revolte keimt auf beim Anblick der Unvernunft, vor einem ungerechten und unverständlichen Leben“, das der Schrei zu Gehör bringt. Der Schrei ist eine Prüfung der Klarheit, bei der sich der Mensch dem Abgrund, der Eitelkeit und seinem eigenen Ursprung stellt und sie erträgt.

Der Mensch schreit, wenn er sich von der Welt erdrückt fühlt. Es ist dieser heftige Schrei des Absurden, der Edvard Munch durchfahren hat, bevor er sein berühmtes Gemälde „Der Schrei“ malte. Beim Anblick einer untergehenden Sonne nahm der Maler plötzlich ein blitzendes Schwert wahr, das das Himmelsgewölbe zerriss. In diesem Moment verspürte er einen großen Schrei, der seinen ganzen Körper erfasste. Nicht nur seine Augen, sondern auch seine Ohren nahmen die Lichtvibrationen wahr. Der Schrei war kein Geräusch mehr, sondern ein vibrierendes Muster, aus farbenfrohen Linien der Natur. •

Übersetzt von
Annika Fränken
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