Kleiner E-Mail-Survival-Guide mit Roman Jakobson
Die meisten Menschen wissen aus dem Alltag: Kommunikation per E-Mail birgt viele Fallstricke und Missverständnisse. Wer diese vermeiden will, sollte sich die sechs Funktionen der Sprache bewusst machen, die vom russischen Linguisten Roman Jakobson (1896 - 1982) formuliert wurden.
„14 Uhr habe ich NUR FÜR SIE in meinem Kalender reserviert“, „Leider hast Du den Anhang vergessen, Max“, „Ok.“ Ob eine überaus deutliche Anspielung auf die Vergesslichkeit einer Geschäftspartnerin; ein Vorname am Ende eines Satzes, der diesen zu einer Rüge werden lässt oder ein Punkt nach einem einzelnen „OK“, der für sich spricht: Solche Formulierungen, wie sie mutmaßlich jeden Tag millionenfach in E-Mails verwendet werden, mögen auf den ersten Blick den Anschein neutraler Aussagen machen. Schaut man jedoch genauer hin, entpuppen sie sich als „Mikroaggressionen“, die unmissverständlich zeigen, dass die Absender verärgert sind. Ein derart gezielter Einsatz von Sprache und Satzzeichen geschieht nämlich nicht völlig unbewusst. Und seien wir ehrlich: Jeder von uns hat seinem Frust schon einmal Luft gemacht, indem er die innere Wut in einen Punkt am Ende eines „Alles klar“ gegossen hat. Man fühlt sich besser und kann die Aggression trotzdem leicht abtun, sollte sie tatsächlich thematisiert werden. „Ich? Verärgert!? Nicht doch!“
Auch wenn dieses Verhalten verständlich ist, liegt den meisten von uns doch an einer friedlichen – und damit oft auch effizienteren – Kommunikation und nicht am Abwurf von Brandbomben in die Postfächer anderer. Wie also lässt sich unsere Kommunikation entschärfen und für alle entspannter gestalten? Mit diesem kleinen Survival-Guide, der jene sechs Sprachfunktionen, die der russische Linguist Roman Jakobson (1896-1982) in seinem Essay Linguistik und Poetik (1960) formulierte, auf E-Mail- Mikroaggressionen anwendet, zeigen wir Ihnen, wie man besser mit diesen postalischen Fallstricken umgehen und sie selbst vermeiden kann.
1. Wörter erzeugen Gefühle. Seien Sie sich der emotiven Funktion bewusst.
„Die sogenannte emotive Funktion“, schreibt Jakobson „die sich an den Sender richtet, bringt die Haltung des Sprechers zum Gesprochenen unmittelbar zum Ausdruck.“ Auf die E-Mail übertragen bedeutet dies, dass die geschriebenen Zeilen sämtliche Funktionen übernehmen müssen, die sich sonst auf den Inhalt des Gesagten, die Geschwindigkeit, den Tonfall, die Lautstärke, die Körperhaltung und die Mimik aufteilen. Entsprechend sollten wir so formulieren, dass wir das, was wir schreiben und wie wir es schreiben, der Empfängerin oder dem Empfänger auch ohne Probleme ins Gesicht sagen könnten. Großbuchstaben klingen im Kopf der Empfänger beispielsweise GESCHRIEN. Aber würden wir uns wirklich zu einem Kollegen umdrehen und ihm „BEARBEITE DAS BITTE SO SCHNELL WIE MÖGLICH“ ins Gesicht brüllen? Anstatt derart typografischen Lärm zu produzieren, könnten Sie es beim nächsten Mal vielleicht mit einer beschönigenden Formulierung, einem sogenannten Euphemismus versuchen. Dieser klingt zwar harmloser, das vermittelte Anliegen sollte allerdings dennoch deutlich werden. Beispiele wären: „Es sei denn, ich irre mich“ (anstatt: Ich weiß, dass ICH RECHT habe) oder „was Dir wahrscheinlich bekannt ist“ (anstatt: Merke Dir das ENDLICH). Diese Ausdrücke transportieren Dringlichkeit, ohne dass sie unsere Postfächer in Kampfplätze verwandeln.
2. Stellen Sie mit der metalinguistischen Funktion sicher, dass sie sich auf einer Wellenlänge befinden.
„Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung […] eines KODES, der ganz oder zumindest teilweise dem Sender und dem Empfänger gemeinsam ist“, erklärt Jakobson. Bestimmte Ausdrücke oder Interpunktionszeichen können jedoch unterschiedlich und somit falsch interpretiert werden. Für manche ist ein Punkt am Ende eines „OK“ kein Grund zur Beunruhigung. Andere lesen aus „OK.“ eine Verärgerung heraus und sind irritiert. Es ist daher notwendig, die „KODES“ des Unternehmens generell und es Gegenübers speziell zu kennen und zu beherrschen, um unnötige Missverständnisse zu vermeiden.
3. Die konative Funktion lehrt uns: Befehlen ist gut. Überzeugen ist besser.
Wer „Sehr dringend“ in die Betreffzeile einer E-Mail schreibt, bedient sich nach Jakobson der konativen Funktion der Sprache, indem er sein Gegenüber (erneut) zum Handeln animieren will. Nach Jakobson wird diese Funktion der Sprache weiter in zwei Hauptmodi unterteilt: Befehle geben sowie Überzeugen. Dabei sei letzterer Modus jedoch wesentlich effektiver als der plumpe Imperativ. Denn wer befiehlt, stellt sich über den Empfänger der Anweisung, was bei diesem ein Gefühl von Machtlosigkeit erzeugen kann. So wird die Aufgabe vielleicht ausgeführt, aber vermutlich nicht bestmöglich. Wer hingegen argumentieren kann, warum diese oder jene Tätigkeit nun oberste Priorität habe, holt alle mit ins Boot, kommuniziert Transparenz und motiviert im Idealfall das gesamte Team für die gemeinsame Sache. Denn wer für sich die Frage beantworten kann „Wofür tue ich das?“, dem geht die Arbeit mitunter deutlich leichter von der Hand.
4. Behalten Sie die Referenzfunktion der Sprache im Kopf, um Informationen nur an die weiterzugeben, die etwas damit anfangen können.
Nach Jakobson teilen sich alle Menschen, die einer Sprache mächtig sind, sogenannte „Referenzen“. Bestimmte Informationen über die Realität also. Allerdings ist zu bedenken, dass nicht alle Informationen über die Realität immer für alle Menschen gleichermaßen bedeutend sind. Wer also kurz davor ist, die eigenen Erfolge mit sämtlichen Kollegen zu teilen, obwohl diese mit der Information nichts anfangen können, sollte innehalten und sich fragen: Habe ich nur Menschen in meinem Verteiler, die diese Information verwerten können? So verhindert man das Abfeuern einer informationstheoretischen Schrotflinte.
5. Die phatische Funktion zeigt uns, mit wem wir es zu tun haben, und hält den Kontakt.
Am Telefon begrüßen wir unser Gegenüber im professionellen Kontext meist mit einem freundlichen „Guten Tag, hier ist X. Ich habe das Anliegen Y“. So wird sofort deutlich, wer was möchte. In der E-Mail übernimmt die Betreffzeile die Funktion der Begrüßung und Vorstellung und stimmt den Ton für den kommenden Inhalt. So können wir prüfen, ob wir aktuell Zeit (und Lust) auf die Mail haben, ohne diese ganz durchlesen zu müssen. Wählen Sie Ihre Worte also leise, um nicht direkt aussortiert zu werden.
6. Und was ist mit der poetischen Funktion?
Noch ist die poetische Funktion der Sprache in unserer beruflichen Kommunikation weitgehend abwesend. Niemand schert sich um das Metrum einer Business-E-Mail. Aber wäre es nicht gerade diese Briese Lyrik, die den oft monotonen Arbeitsalltag lebendiger machen könnte? Einen Versuch wär’s wert (das war ein Trochäus). •