Mentoren – Engel auf Erden?
Wir haben es mit einem Fachkräftemangel in der Zwischenmenschlichkeit zu tun. Zu dieser Feststellung kommt unsere Autorin Birthe Mühlhoff und erläutert, warum wir zu besseren Mentoren werden, wenn wir uns an Engeln orientieren. Eine Anleitung in sieben Schritten.
Es herrscht Fachkräftemangel. Darüber sind sich Politik, Arbeitgeber und Medien einig. Deutsche Unternehmen und Handwerksbetriebe ächzen darunter, dass sie die Auftragslage nicht bewältigen können, weil ihnen das Personal fehlt. Sogar Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt. Auch die Energiewende ist mit der Frage konfrontiert, wie eine Solaranlage überhaupt fachgemäß aufs Dach kommt. Doch das ist nicht unser einziger Mangel. Denn immer mehr Menschen fühlen sich alleingelassen – nicht nur im Beruf, sondern auch im Leben. Das Problem könnte also noch viel größer sein, als der Blick in den Wirtschaftsteil der Zeitungen vermuten lässt: Wir haben es auch mit einem Fachkräftemangel in der Zwischenmenschlichkeit zu tun.
Vielleicht müssten sich mehr Menschen als Mentoren begreifen. Große Konzerne setzen in der Ausbildung immer mehr auf individuelle Begleitung und Förderung. Die damit einhergehende Professionalisierung bei Mentoring-Programmen mag vergessen lassen, dass jeder von uns die Möglichkeit hat, einem anderen Menschen unter die Arme zu greifen und über einen längeren Zeitraum beiseitezustehen.
Wer sich also über mangelnde oder mangelhafte Bewerber, inkompetente Kollegen und unzuverlässige Schulabgänger beklagt, muss sich die Frage gefallen lassen, wie viele Menschen er selbst auf dem Weg in die Kompetenz begleitet hat. Im Gegenzug ist natürlich die Frage erlaubt, wie das eigentlich gehen soll. Worauf kommt es an, wenn man ein Mentor sein möchte? Dieser Text macht einen Vorschlag in sieben Punkten und zieht eine Figur als Vorbild heran, die zwar jedem bekannt vorkommen dürfte, aber selten in Betracht gezogen wird: Als Mentor kann man sich an Engeln orientieren.
1. Der Engel – ein Vorsprung
Die Vorstellung von Engeln ist so alt und ihre Darstellung in der Kunst so weit verbreitet, dass kaum jemand Mühe haben wird, die hellen, verklärten Gestalten mit Flügeln an den Schultern zu erkennen. Ihre Gestalt sagt: Wir haben eigentlich keine. Wir sind beinahe durchsichtig, flüchtig wie der Wind, ungreifbar. Flügel symbolisieren örtliche Ungebundenheit, aber auch das Menschenunmögliche, Un- oder Übermenschliche. Die Flügel machen klar, dass Engel ganz eindeutig zum Bereich des „Numinosen“, zum „gestaltlos Göttlichen“ gehören. Engel verweisen auf etwas anderes, auf etwas, das sie übersteigt. „Der Engel ist die Geste, die Bedeutung ist Gott“ – so formuliert es der Leipziger Pfarrer und Dichter Christian Lehnert in einem 2020 erschienenen Buch Ins Innere hinaus. Mit anderen Worten: Bei Engeln geht es nicht um die Engel selbst.
Auch bei Mentoren geht es, selbst wenn es leicht so scheinen mag, gar nicht um die eigene Person oder Persönlichkeit des Mentors. Wer Mentor ist, ist ein Reservoir an Lebenserfahrung, jemand, der manche Fehler, die man nicht wiederholen muss, bereits gemacht hat. Der Mentor ist nichts anderes als ein Vorsprung. In diesem Sinne kann jeder Mensch einem anderen zum Mentor werden, wenn zwischen ihnen ein Vorsprung besteht – das kann der Altersunterschied sein oder ganz unabhängig vom Alter ein Erfahrungsvorsprung oder bessere Sprachkenntnisse. Indem er einem anderen Menschen zur Selbstständigkeit verhilft, arbeitet der Mentor im besten Falle sogar aktiv daran, überflüssig zu werden.
2. Der Engel als Mentoratsmentor
Zugegeben: Engel sind merkwürdige Flatterwesen. Der protestantische Theologe Karl August Hase sagte Mitte des 19. Jahrhunderts wenig schmeichelhaft über sie, sie seien „metaphysische Fledermäuse“. Kurioserweise kommen Engel zwar an vielen Stellen in der Heiligen Schrift vor, nicht aber in der biblischen Schöpfungsgeschichte. Als Gott Tag und Nacht, Pflanzen, Tiere, Menschen und netterweise auch den Ruhetag erschuf, scheint er die Engel vergessen zu haben. Schon früh assoziierten Theologen die Engel daher mit dem Licht, das der Schöpfer zu Anbeginn von der Finsternis scheidet. Engel seien „Lichtgestalten“ – und folglich noch vor allen anderen Dingen und vor der Zeit selbst erschaffen worden. Das bedeutet: Anders als der Mensch unterliegen sie nicht dem Lauf der Geschichte und dem Wandel der Zeiten, sondern „leben“ in der Ewigkeit, in dem, was man auch Himmel nennt. Sie waren anwesend bei der Schöpfung der Welt und werden es bei ihrem Ende sein. In der Feier des christlichen Gottesdienstes stimmt die Gemeinde im Sanctus-Ruf daher in den ewigen Gottesdienst der Engel ein – ins „währende Nun“ wie der Theologe Romano Guardini es nennt.
Nun etwas spekulativer: Wenn die Engel nicht der Zeit unterworfen sind, dann trifft auch der bekannte Spruch des Philosophen Søren Kierkegaard nicht auf sie zu, wonach das Leben nur „vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“ werden kann. Sie müssen nicht, wie wir, immer wieder scheitern, um voranzukommen. Engel sind der Inbegriff dessen, was uns Menschen verwehrt ist und wonach wir uns sehnen: Engel sind sich selbst Mentor und Mentee zugleich. Man könnte also mutmaßen: Wenn ein Engel sich im Wald verläuft – bzw. verfliegt – also zum Beispiel „den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht“, dann kann er sich von seinem zukünftigen Selbst, das mit seinem gegenwärtigen Selbst zusammenfällt, an die Hand nehmen lassen. Das können wir Menschen immer nur versuchen. Engel haben den Durchblick, den „Draufblick“, das heißt die nötige Distanz, die wir Menschen meistens nur über den Umweg anderer (erfahrenerer) Menschen gewinnen können
Systemtheoretisch gesprochen, könnte man Engel also als „Mentoren zweiter Ordnung“ bezeichnen: als Mentoratsmentoren, Vorbild des Vorbildhaften. Als Mensch kann man sich in dem Verständnis dessen, wie man die Mentorenrolle begreift, an ihnen ein Beispiel nehmen. Denn niemand kommt als geborener Mentor auf die Welt, sondern man wird es und man wird es keineswegs automatisch. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn auch der Mentor den Durchblick einmal verliert oder Fehler macht. Immerhin hat man als Mentor vielleicht eine Strategie, wie man sich Überblick verschafft und mit Fehlern umgeht. Denn in einem Mentoratsverhältnis geht es weniger um die Weitergabe von Fachwissen als um die Weitergabe von Wissen, welches man aus Fehlern zieht.
3. Der Engel trägt seinen Sinn in sich selbst
Seit den frühmittelalterlichen Schriften des Pseudo-Dionysius Areopagita beschreibt die Angelologie, die Lehre von den Engeln, eine strenge Hierarchie. Die „gewöhnlichen“ Schutzengel und die vier Erzengel bevölkern tatsächlich nur die zwei untersten von insgesamt neun Sphären, zuoberst stehen die Seraphim und Cherubim. Diese Himmelsleiter führt von Schwelle zu Schwelle zu Gott hinauf. Der Tradition nach überbringen die Engel unsere Gebete – „angelos“ ist auf Griechisch der Bote – und in der Gestalt von Engeln teilt sich Gott uns mit. Dass der einzelne Mensch einen direkten Draht zu Gott überhaupt haben und verkraften kann, ist schließlich alles andere als eine Selbstverständlichkeit und eine relativ moderne Idee. Der transzendentale Sinn, der in der christlichen Nächstenliebe steckt, ist nun aber die Idee, dass man Gott mit jedem Schritt näherkommen kann, den man auf einen anderen Menschen zugeht. Denn mit jedem Schritt tritt man ein Stück weit aus dem begrenzten Selbst und der eigenen Partikularität heraus. Und auch der Engel ist unser Nächster, wie der rumänische Philosoph Andrei Pleșu es formuliert, bloß nicht in horizontaler, sondern in vertikaler Richtung, nicht neben uns, sondern „über“ uns.
Die weit verbreitete Vorstellung von persönlichen Schutzengeln verleitet jedoch dazu, Engel auf eine pädagogische Funktion zu reduzieren. Das kritisiert auch Romano Guardini: Engel sind „kein Mittel der Erbauung und Erziehung des Menschen“! Im Gegenteil, sie tragen ihren Sinn in sich selbst, sie sind „gestaltgewordene Anbetung“.
Auch als Mentor läuft man Gefahr, sich auf eine pädagogische Funktion reduzieren zu lassen, man wird leicht zum „Erklärbär“ oder fühlt sich überfordert. Doch als Mentor oder Mentorin ist man keine Servicekraft, kein Bodyguard, kein Babysitter. So wenig wie es im Mentoratsverhältnis um die Persönlichkeit des Mentors geht, so wenig geht es auch um den Mentee und sein persönliches Fortkommen. Ein Mentorat ist keine Seilschaft, ein Mentor kein Steigbügelhalter. So wie es bei Engeln und Gläubigen um die gemeinsame Anbetung, das gemeinsame Ausgerichtetsein auf Gott geht, geht es auch im Mentoratsverhältnis um eine gemeinsame Aufgabe. Mentor und Mentee arbeiten gleichberechtigt nebeneinander, sie widmen sich der Aufgabe nur von zwei verschiedenen Warten aus. Der eine macht es und weiß, worauf man achten muss und wo die Fallstricke liegen, und der eine macht es und weiß es nicht.
4. Der Engel ist einer, mit dem man kämpft
Sicherlich stellen wir uns Engel als Wesen vor, die es gut mit uns meinen – zu Recht. Zwar sind sie frei, sich gegen das Gute zu entscheiden, aber in diesem Fall nennen wir sie nicht mehr Engel. Und doch ist es mit dem lieben Engelsblick und der sprichwörtlichen Engelsgeduld so eine Sache. Wenn in der Bibel ein Engel auftaucht, um einem Menschen eine Botschaft zu überbringen, dann lauten seine ersten Worte meist: „Fürchte dich nicht!“ Wir vergessen es gern, aber Engel sind tatsächlich zum Fürchten – sie sind numinos, sie jagen uns einen Schauer über den Rücken. Nicht ohne Grund ähneln sie in ihrem kulturell tradierten Aussehen in einigen wesentlichen Punkten dem Bild von Geistern und Gespenstern. Christian Lehnert vergleicht den Engelsgesang sogar mit dem Schrei einer sterbenden Ratte. Der Engel selbst muss uns die Kraft geben, seine Gegenwart zu ertragen, ja zwischen Jakob und dem Engel des Herrn kommt es sogar zum erbitterten Kampf. In seinem Gedicht Der Schauende von 1920 bezieht sich Rainer Maria Rilke auf diese Geschichte aus dem Alten Testament: Obwohl er unterliegt, geht der Mensch „gerecht und aufgerichtet“ aus diesem Kampf hervor. Der Mensch wächst – paradox eigentlich – gerade daran, dass er dazu verurteilt ist, „der Tiefbesiegte von immer Größerem zu sein“. Der Engel, so geht das Gedicht weiter, ist für den Menschen „wie eine harte Hand, die sich, wie formend, an ihn schmiegte“.
Was bedeutet das für den Mentor? Ein Mentor, eine Mentorin, darf einschüchternd wirken. Im besten Falle nimmt die Mentorin zugleich die Angst, die sie ihrem Mentee einjagt. Das kann auch für den Mentor hart sein: Seine Aufgabe liegt nicht nur darin, seinen Protegé zu ermutigen. Ermutigt (und in die Pfanne gehauen) werden unerfahrene Menschen oft genug. Als Mentor muss man denjenigen, den man begleitet, auch manchmal von Dingen abhalten, und das erfordert Mut. Auch der Engel als Wächter schützt uns schließlich nicht nur vor äußeren Gefahren – sondern auch (und vor allem) vor uns selbst.
5. Der Engel bricht die Logik von Gegensätzen auf
Seines Wissens nach sei er der einzige ehemalige Außenminister, der ein Buch über Engel geschrieben hat, sagt der rumänische Philosoph Andrei Pleșu. In seinem Buch Das Schweigen der Engel (2003) macht er die Engel zum Mittelpunkt seiner Kritik am „Denken in Gegensätzen“, zu dem wir Menschen neigen: Wir denken beispielsweise, dass es Dinge entweder gibt oder nicht gibt. Wir sprechen von Gott, dem Himmel und der Unsterblichkeit als etwas, das uns Menschen, hier auf der Erde, in unserer Sterblichkeit, gar nichts angeht, weil zwischen Jenseits und Diesseits keine Beziehung besteht. Dieses Denken in Gegensätzen, das ist Pleșus Überzeugung, birgt die Gefahr, dass wir „nur noch abstrakt denken und mechanisch handeln“. Der Fall Luzifers – des Engels, der seine Freiheit darauf verwendete, gegen Gott aufzubegehren – ist dementsprechend der Einbruch der binären Logik par excellence. Im sprichwörtlichen „Teufelskreis“ erscheint alles unausweichlich, in einem Entweder-Oder gefangen. Engel, so Pleșu, füllen diesen Zwischenraum zwischen Gott und den Menschen mit Komplexität. Engel sind die Garantien, dass Gott nicht in abstrakte Ferne rückt und jede Relevanz verliert, oder aber von uns auf Handgepäcksgröße zusammengefaltet wird und durch Vermenschlichung das verliert, was einen Gott ausmacht.
Diese Komplexitätssteigerung leistet auch der Mentor. Als Mentor hilft man jemandem, die Welt nicht in Schwarz-Weiß zu sehen und aus Teufelskreisen herauszukommen. Wie macht man das? Was „macht“ ein Mentor überhaupt? Vielleicht gar nicht viel mehr, als einfach da zu sein. Es geht in einem Mentorat nicht darum, in dem Leben eines anderen Menschen herumzufuhrwerken und Veränderungen anzuzetteln. Der Mentor ähnelt, wie die Himmelsleiter der Engel, eher einer gut ausgemessenen Treppenstufe oder einem Geländer: Er ist eine Konstante im Leben eines Menschen, der gerade eine Veränderung durchläuft. Einer, an dem man sich messen kann. Und den Komplexitätsgrad der eigenen Weltwahrnehmung.
6. Der Engel ist Hintergrundmusik
Dass Engel sich der binären Logik entziehen, das heißt den Dichotomien von Gott versus Mensch, Diesseits versus Jenseits, hat die bildende Kunst immer vor Herausforderungen gestellt. Engel wurden menschlich dargestellt, aber mit Flügeln – wo doch das Fliegen diejenige Fortbewegungsart ist, die dem Menschen verwehrt ist und von der er seit jeher träumt. Hieraus erklärt sich auch, warum Engel typischerweise androgyn dargestellt sind – als weder männlich noch weiblich. Passen sie damit nicht in den aktuellen Diskurs um Transsexualität und non-binäre Geschlechtsidentitäten, könnte man fragen? Diese Idee muss insofern abwegig erscheinen, als dass man damit weiterhin von der menschlichen Geschlechtlichkeit ausgehen würde, so fluide man sich diese auch vorstellen mag. Engel sind vielmehr frei von jeder Geschlechtlichkeit. Nach Thomas von Aquin sind sie sogar reine Form, frei von Materie.
Der Mystiker Jacob Böhme, der um 1600 sein Buch Morgenröte im Aufgang verfasste, stellt einmal ganz konkret einen anatomischen Vergleich von Menschen und Engeln an. Er kommt zu dem Schluss, Engel hätten wie die Menschen ein Gesicht mit Augen, Nase, Mund. Ganz im Sinne reiner Lichtgestalten besäßen sie aber keine „geburths-glieder und auch keinen außgangk von unten“, also keine Geschlechts- und Ausscheidungsorgane.
Es geht Böhme natürlich nicht ernsthaft um die Anatomie von Engeln. Der dazugehörige Gedankengang ist viel interessanter: Engel haben, wie wir, einen Mund, da sie auch Geschöpfe Gottes sind und sich als solche von den himmlischen Früchten ernähren. Anders als wir Menschen geben die Engel die himmlischen Früchte aber nur durch den Mund wieder ab – als Gesang. Lobpreis ist schließlich die den Engeln wesentlich zukommende Aufgabe. So bezeichnet Andrei Pleșu Engel auch als den „akustischen Nimbus der Schöpfung“, als musikalischen Glanz.
Im Barock wurden Engel zunehmend kindlich dargestellt, ebenfalls geschlechtlich unbestimmt. Im Stuck als Dekorationselemente eingesetzt, auf Gemälden am Bildrand lümmelnd, sind die Putten, oft mit Posaunen und Trompeten ausstaffiert, Sinnbild für Musik: Man mag sie kitschig finden, doch die Engelchen sind ernstgenommen tatsächlich der Versuch, einem Raum mit architektonischen Mitteln eine musikalische Hintergrundmusik zu verleihen.
Ein Mentor ist wie Hintergrundmusik. Musik kann bewirken, dass eine Aufgabe, die anstrengend oder unmöglich erscheint, viel leichter von der Hand geht als gedacht. Das dürfte zumindest jeder nachvollziehen können, der sich schon einmal Kopfhörer aufgesetzt und sich dadurch getragen, aufgehoben, selbstbewusster gefühlt hat. Oder wer schon mal ein Kind dabei beobachtet hat, wie es alleine im Dunklen vor sich hin summt – man kann nicht gleichzeitig singen und Angst haben.
Als Mentor muss man nicht versuchen, als besonders großartiger Mensch zu wirken. Man sollte als Mentor sogar darauf bedacht sein, nicht als Mensch angehimmelt zu werden. Weil sich ein Mentorat zu einer engen und inspirierenden Beziehung oder Freundschaft entwickeln kann, besteht immer die Gefahr, es mit gegenseitiger Anziehung zu verwechseln, womit der Sinn der Sache aus dem Blick gerät und untergraben wird – die Philosophin Amia Srinivasan begründet diese Position ausführlich in ihrem Buch Das Recht auf Sex (2022). Dass Körperlichkeit und Persönlichkeit in einem Mentoratsverhältnis nur die zweite, dritte oder im besten Fall gar keine Geige spielt, lässt sich auch daran festmachen, dass das Verhältnis zu einem Mentor gar nicht unbedingt mit dessen Tod aufhört. Entscheidende Dinge – was er oder sie gesagt hat oder wie er oder sie etwas bewerkstelligt hat – hallen nach oder lassen sich abrufen wie eine Melodie. Ein Mentorat ist wie Musik vor allem eine Frage der Resonanz.
7. Der Engel ist Meister der Unwahrscheinlichkeit
Engel sind uns Menschen dahingehend haushoch überlegen, dass sie voller Hingabe die Ehre Gottes besingen und dessen nicht müde werden. Aber nicht Perfektion und Makellosigkeit machen das Wesen von Engeln aus. Es kommt hier auf etwas anderes an: Sie verschieben das Unwahrscheinliche in den Bereich des Vorstellbaren. Man muss nicht daran glauben, dass es Engel „wirklich gibt“, um sagen zu können, dass Engel uns einen Begriff davon geben, dass eine solche Vollendung zumindest denkbar, vorstellbar wäre.
Das Beispiel der Nächstenliebe zeigt das gut. Es ist leicht, einem Menschen mit Wohlwollen und Liebe zu begegnen, den man sympathisch findet. Wie ein Ding der Unmöglichkeit erscheint das aber, wenn Sympathie aufzubringen schwerfällt – weil er politisch auf einer anderen Seite steht oder weil er uns persönlich verletzt hat. In dieser Situation können wir einen Engel als dritte Instanz, als Mittler, hinzutreten lassen, von uns unterschieden und uns doch nicht fremd. „Liebe deinen Feind“ bedeutet dann: „Denke daran, dass er von seinem Engel geliebt ist“ und gar nicht anders als geliebt sein kann. Ich muss also nicht unbedingt Liebe für meinen Feind empfinden, um ihm mit Liebe begegnen zu können, weil diesen Part ein anderer für mich übernimmt. Für einen Moment verlieren wir uns in den Engel und der Engel verliert sich in uns. (Was vielleicht eine Antwort auf die Frage ist, ob es Engel gibt.)
Engel sind Meister des Unwahrscheinlichen. Auch darin kann man sich als Mentor ein Beispiel nehmen. Denn es ist nicht so besonders originell, wenn man sagt: Ich bin ein Mentor für meine eigenen Kinder. Oder: Ich warte darauf, dass mir ein junger Mensch über den Weg läuft, der haargenau so tickt wie ich selbst. Es ist auch keine große Kunst, jemanden unter die Fittiche zu nehmen, der eh schon mit Rückenwind unterwegs ist. Wie findet man jemanden, dem man Unterstützung und Begleitung anbieten kann? Es lohnt sich, im Unwahrscheinlichen zu fischen und es zum Beispiel ausgerechnet mit dem jungen Mitarbeiter, der jungen Kollegin zu versuchen, den oder die man schon längst verloren gegeben hat. Mentorat heißt, gemeinsam eine Unwahrscheinlichkeit in Richtung Wirklichkeit zu verschieben. Je größer die Unwahrscheinlichkeit am Anfang, desto schöner, wenn sie Wirklichkeit wird. •
Birthe Mühlhoff hat Philosophie in Hamburg und Paris studiert. Sie schreibt und übersetzt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, Zeit Online, Merkur, Edit, Die Epilog. Zuletzt gab sie mit Danilo Scholz und Svenja Bromberg den Band „Euro Trash“ bei Merve heraus.
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