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 Philosophie Magazin - Impulse für ein freieres Leben
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Bild: UIG (Imago)

Impuls

Pariser Grabbetrachtungen

Claas Oberstadt veröffentlicht am 16 September 2025 7 min

Unser Autor besuchte mehrere Tage lang das Grab von Jim Morrison, dem Frontsänger von The Doors. Was er fand, waren Ausstiegsversprechen und gute Fotos.

Selbst früh am Morgen steht ein Wärter am türkisenen Tor, das mit seinen drei Metern Höhe jeden Besucher weit überragt. Er grüßt mit kurzem Nicken und bleibt sonst unbewegt mit überkreuzten Beinen vor einem kleinen Verschlag stehen. Ein erster Blick auf die sich hinter Tor und Wärter auftuende Allee kündigt bereits an: Hier handelt es sich um keinen gewöhnlichen Friedhof, hier ist die letzte Ruhestätte so klangvoller Namen, wie Oscar Wilde, Frédéric Chopin, Edith Piaf, Marcel Proust – und Jim Morrison.

Kurz bevor der Stern, der Morrison und seine Band, The Doors, in wenigen Jahren ans Himmelszelt der Popkultur geschossen hatte, frühzeitig verglühte, war er mit seiner Freundin, Pamela Courson, nach Paris gezogen. Zuvor hatte der Musiker seinen Bandmitgliedern angekündigt: Nach sechs Alben in sechs Jahren seien The Doors nun Geschichte. Knapp vier Monate später wurde er im kleinsten Kreis binnen weniger Minuten auf diesem Pariser Friedhof, in der direkten Nachbarschaft seiner literarischen Helden, beigesetzt. Seine letzte Ruhestätte entwickelte sich schnell zum Wallfahrtsort für Fans und Gläubige, die an dem Versprechen, dass er ihnen gab, festhielten.

Bis heute, 54 Jahre nach seinem Tod, pilgern sie auf den Friedhof, um sein Grab zu besuchen. Doch wie sehr kann an einem solchen Ort noch Platz für Einkehr und Gedenken sein, in Zeiten des Over-Tourisms, wo selbst unwegsame Berge und Unterwasserriffs als Kulisse für endlose digitale Selbstbespiegelung herhalten? Um das herauszufinden, will ich über die nächsten Tage jeden Morgen diesen größten Friedhof von Paris, und wohl einem der meistbesuchten weltweit, den sagenumwobenen Père-Lachaise besuchen.

Mit Hilfe von Google Maps bahne ich mir an diesem ersten Tag den Weg an alten Familiengruften der französischen Aristokratie vorbei. Vereinzelt glänzen frisch bezogene Gräber zwischen Relikten einer vergangenen Zeit, die an die Gründung des Friedhofs zur Zeit von Napoleon Bonaparte erinnern. Die Morgensonne scheint durch raschelnde Baumwipfel. Ein paar Krähen sorgen für die passende Friedhofsstimmung. An einer hinteren Ecke des 43 Hektar – oder 4,3 Millionen Plattencovern – großen Areals, liegt das Grab, verborgen hinter einer kleinen Wegbiegung.

Das einzige Gitter auf dem Friedhof kündet davon, dass hier jemand ruht, dem selbst nach seinem Tod besondere Aufmerksamkeit zukommt. Davor stehen bereits zwei Männer. Angegrautes bis graues Haar, vielleicht Vater und Sohn, warten in Stille am Grab. Eine Gruppe Zwanzigjähriger kommt dazu. Auch sie verweilen andächtig. Als sich eine Frau aus der Gruppe abdreht und zu weinen anfängt, trösten sie die anderen. Da fährt ein Mitarbeiter in einem Mini-Laster den schmalen Weg entlang, steigt aus und klettert über das Gitter.

Prüfend schaut er sich um und beginnt das Grab aufzuräumen. Ein rotes Bandana legt er zur Seite. Ein paar Goldmünzen, die wohl als Glücksbringer auf die Erde geworfen wurden, platziert er auf dem Grabstein. Eine abgelegte Sonnenbrille landet in seiner Cargo-Hose und eine beige Kappe in der mitgebrachten Mülltüte. Auch die übrigen Memorabilia ordnet er und drapiert sie auf dem Grabstein: Neben einer Quietsche-Ente mit Schottland-Fahne, finden sich da eine Miniaturgitarre, unzählige Gittarrenpics, ein Kaktus und eine geflügelte Figur, die ein Herz umarmt. Darauf steht: „Ein Engel schütze dich“.

 

Ausstieg aus dem Alltag

 

Zur Einstimmung mache ich mir am nächsten Tag das erste Doors-Album an: Die Schlagstöcke hauen aneinander, geben den Takt vor. Ein erster Gitarrenklang, der Bass setzt ein und Morrison eröffnet in der Selbstverständlichkeit des Propheten, die er über die nächsten Jahre beibehalten wird. Innerhalb weniger Sekunden setzt er programmatisch das Vorhaben für die kommenden Jahre fest: „Break on through to the other side.“ Bereits das erste Album der Band kreist um die Themen, die Morrison – so scheint es beim erneuten Eintritt auf den Friedhof, dem erneuten Grüßen des Friedhofswärters, der, wie unverändert mit überkreuzten Beinen vor seinem Häuschen steht – ins Grab bringen werden: Die Nacht, ihr Versprechen, ihre Dunkelheit; die Liebe, das Verlangen danach, die Enttäuschung, die ihr folgt; der Exzess, das Aussteigen aus den Zwängen des Alltags, der normierten Regelförmigkeit.

Am Grab angelangt, drängeln sich diesmal viele Schaulustige. Es wird fotografiert, etwas herumgestanden, weiter getrottet. Das Bandana von gestern ist verschwunden. Die hingeworfenen Münzen wurden in eine Schale geräumt. Eine einzelne Rose liegt auf der Erde. Auch um 11:30 Uhr am folgenden Tag wirkt das Grab wie eine weitere Station, die es auf dem Paris-Programm abzuhaken gilt. Vor dem Gitter sammelt sich eine Menschentraube. Die Handys gezückt, warten die Anstehenden auf das eigene Bild vom Grab. Es wirkt, als hätte das Bilder-Machen den Moment der Einkehr gänzlich ersetzt. Warum noch innehalten, Zeit vergeuden, wenn man auch ein Foto machen kann, um es sich später anzuschauen. Als könnte man mit einem schnell geschossenen Bild die Andacht aufschieben. Oder es ist ihr gänzliches Ausbleiben, weil ist man ehrlich: Wer schaut sich schon in Ruhe seine Urlaubsfotos an. Das Grab dient nurmehr als Attraktion: Schau, wo ich gewesen bin.

 

Exorzismus des Tourismus

 

Ein weiterer Morgen zieht vorbei wie die weiteren Schaulustigen. Langsam frage ich mich, was diese Besuche bezwecken sollen. Handelt es sich um einen Exorzismus des heutigen Tourismus, der selbst vor den Toten keinen Halt macht? Warum besucht man einen Friedhof – ja, warum baut man so etwas überhaupt? Ich erinnere mich an einen Vortrag des Psychiaters und Phänomenologen Thomas Fuchs, der von der leiblichen Notwendigkeit eines Trauerorts handelte. Gibt es keinen Ort der Trauer, keinen Ort, wo man sie ablegen kann, frisst sie sich, so könnte man ganz buchstäblich sagen, in uns hinein.

Nun mag das für diejenigen, die eine nahestehende Person verloren haben, zutreffen. Aber für Jim Morrison oder andere persönliche Helden und Heldinnen der Geschichte? Eine Heldenfigur hilft uns wohl einen Möglichkeitsraum zu öffnen, in den wir mit dem Besuch ihrer Gräber abermals eintreten können, uns etwas umschauen dürfen – ohne all die Risiken und Nebenwirkungen, die etwa so ein Rockstarleben mit sich bringt. Der Steppenwolf, The Doors, Friedrich Nietzsche und ein bisschen Gras scheinen, auch wenn ich an meine eigene Jugend denke, das Einsteigerpaket und Ausstiegsversprechen für alle zu sein, die sich nach mehr sehnen: Nach etwas Mythos in einer säkularisierten Welt, etwas Ausbruch aus gepflegten Vorstadtsiedlungen, etwas Versprechen, wo das Versprechen der Zukunft als Fortschrittserzählung ausgedient hat. Eine Friedhofswärterin tippt mir auf die Schulter, ich müsse mein Notizbuch doch bitte vom Grabstein nehmen, den ich unbedacht als Tisch benutzt habe.

Ich packe mein Notizbuch ein und in einem Moment der Stille, die letzte Gruppe ist gerade weitergezogen, trete ich an das Grab heran. Eine Touristin mit Espadrilles und Trolley dreht sich eine Zigarette. Wir stehen zu zweit am Grab, unseren Gedanken nachhängend, da nimmt sie ihr Handy heraus, drückt etwas darauf herum. Es klingelt ein paar Mal. Mit einem Knacken ist ein Gesicht auf dem Bildschirm zu sehen. Stolz hält meine Grabnachbarin das Handy in die Höhe. Mit breitem schottischem Akzent ruft sie ins Telefon: „I just had a quiet moment with Jim.“

 

Suche nach der verlorenen Zeit

 

Am Tag meines letzten Besuchs öffnet sich über dem Grab gerade langsam der Himmel. Die Morgensonne schiebt die Wolken fort und lässt das Grab als Schrein, die Hinterlassenschaften wie altertümliche Grabbeigaben erscheinen: Zigaretten, Briefe, der kleine Kitsch-Engel. Morrison fragt, auf dem sieben Jahre nach seinem Tod erschienenen Album American Prayer, als wäre er noch einmal aus dem Grab gestiegen: „Did you have a good world when you died? / Enough to base a movie on?“ Möglicherweise liegt in dieser kleinen Frage sein Versprechen verborgen: Die schöpferische Qualität des Lebens offen zu legen, dass das Leben etwas ist, das wir uns erzählen, was sich formt aus den Träumen und Erinnerungen, aus den Betonungen und Auslassungen, die es beim Erzählen immer gibt.

Vereinzelt treffen die ersten Besucher des Tages ein. Machen Bilder, haben ihren stillen Moment mit Jim. Oder, mit den Worten des entfernten Grabnachbarn Marcel Proust: Sie machen sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Denn was ist ein Friedhof sonst, als ein Ort für die Lebenden, ihr Leben an sich vorbeiziehen zu lassen. Die Musik auf meinen Ohren stoppt. In die Stille spricht Morrison, „one more thing“ – ein paar letzte Worte also:

Thank you, O Lord
for the white blind light
A city rises from the sea
I had a splitting headache
from which the future’s made.

Als dieses letzte Gedicht verklungen ist, bin ich wieder allein am Grab unter einer angenehm wärmenden Sommersonne. Ein paar Zigarettenstummel liegen herum, an diesem Ort, wo das Rauchverbot aus Erinnerungsgründen ausgesetzt scheint. Die Vögel zirpen. Ein Friedhofwärter kommt gefahren. Es ist derselbe, wie am ersten Tag, wieder klettert er, mit einem Müllsack in der Hand, über das Gitter und beginnt das Grab aufzuräumen. Ich frage ihn, ob er das täglich mache. Ja, sagt er. Und, wie er entscheide, was bleibt und was wegkommt? „Flaschen und Zigaretten“, er deutet auf seinen Müllsack. Die meisten anderen Sachen dürften bleiben. Er selbst würde ja alles so lassen, aber – er zeigt nach oben und meint damit wohl weniger einen Gott als die Friedhofsverwaltung: „Pour la bonne photo.“ – Für die guten Fotos also. •

 

Claas Oberstadt studierte Philosophie in Berlin, Aarhus und New York, mit Schwerpunkten in der Sozialphilosophie, Affekt- und Emotionsforschung sowie postkolonialer Theorie. Seit April 2023 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Graduiertenkolleg „Kleine Formen“ der Humboldt-Universität zu Berlin. Neben seiner Promotion schreibt er für „die Zeit" und „Zeit Online".

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