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Bild: © Stefanie Becker

Interview

Peter Sloterdijk: „Früher hat man gebetet, heute hat man eben das Handy“

Peter Sloterdijk, im Interview mit Svenja Flasspoehler veröffentlicht am 11 November 2020 8 min

Die längste Zeit war das Gewissen der Kontrolleur unseres Handelns. Heute, so Peter Sloterdijk, sei an seine Stelle das Smartphone getreten. Im Gespräch erläutert der Philosoph, wie es zu diesem Wandel kam – und welche Rolle Gott dabei spielt.

Philosophie Magazin: Herr Sloterdijk, Den Himmel zum Sprechen bringen, ist nicht das erste Buch, in dem Sie sich mit Gott beziehungsweise Göttern beschäftigen. Woher rührt bei Ihnen, wenn ich mit dieser persönlichen Frage beginnen darf, dieses Interesse?

Peter Sloterdijk: Ich gehe davon aus, dass theologische und philosophische Begriffe einen Infektions-Index an sich tragen. Ich gehöre offenbar zu den Personen, die die Infektiosität gerade dieses Begriffs – Gott – besonders spüren. Philosophen sind sonst eher dafür bekannt, dass bei ihnen der Begriff „Welt“ zu star -ken Ausschlägen führt und zu heftigen intellektuellen Immunreaktionen Anlass gibt. Seit Heidegger wird ja die menschliche Situation insgesamt mit der Formel vom In-der-Welt-Sein umschrieben. Das klingt so, als wäre man da in eine Nährlösung hineingeraten, auf die man nur mit heftigen symbolischen Immunreaktionen antworten kann. Aus dem Begriff „Welt“ ergibt sich ganz wie von selbst der Begriff des „Grundes“, und das ist, wenn Sie so wollen, der logische Tarnname für das, was mit Gott gemeint ist. Das will sagen, es muss einen Urgrund oder einen Urzufall oder irgendetwas anderes Anfängliches geben. Darin zeigt sich der etwas konservative Trieb, im Stil einer großen Erzählung mit dem Anfang anzufangen. Konstruktivisten lassen die Anfänge weg und bauen sozusagen ihr Floß mit den Materialien, die sie auf hoher See als Treibgut vorfinden.

Den Himmel zum Sprechen bringen: In dieser Formulierung steckt ein starker Wille, vielleicht sogar ein wenig Gewalt. 

Ja, man gesteht dem Himmel nur bis zu einem gewissen Grad die Freiheit zu, schweigsam zu sein, und wenn er zu lange schweigt, bringt man ihn zum Sprechen. Die höheren Kulturen des Altertums haben allesamt Verfahren entwickelt, wie man dem Jenseits Fallen stellt, sodass es zur Aussage genötigt wird. In einigen Kulturen hat man etwa aus den Eingeweiden von Opfertieren Rückschlüsse auf göttliche Dispositionen gezogen. Das eindrucksvollste erhaltene Objekt dieser Art in Europa ist eine bronzene Schafsleberorakelkarte, auf der die verschiedenen Bedeutungen einer solchen durch Schlachtung erzeugten Epiphanie abgelesen werden können. Das war ein etruskisches Kultobjekt, das es den Priestern erlaubte, in der Leber eines Opfertieres zu lesen wie in einem offenen Buch. Später hat man angefangen, den Himmel als eine Bibliothek zu betrachten – die mit Bildern bevölkert ist, die zu uns sprechen, man denke an die Sternbilder und die Tierkreiszeichen: Zu jedem gehören populäre Geschichten. Andere Kulturen haben Drogentechniken entwickelt, mit deren Hilfe die Götter genötigt wurden, ihre Meinungen durch personale Medien kundzutun. Man hat den Göttern also keine Ruhe gelassen.

In Ihrem Buch geht es allerdings nicht nur ums Sprechen, sondern auch ums Sehen. Auch als Sehender tritt der Himmel in den Fokus. Sie beschäftigen sich mit dem göttlichen Auge, das die Individuen permanent observiert. Was hat es damit auf sich?

In den frühen Königreichen konnte eine allgemeine Religion nicht mehr durch Erziehung nach den Gewohnheiten der älteren Stämme implantiert werden. Deshalb musste man den Menschen den Gedanken nahebringen, dass sie unter Beobachtung durch Himmelsgötter stehen. Diejenige menschliche Per -son, an der man das absolute Beobachtetsein zuerst einübt, ist der Pharao. Über ihm schwebt die Vorstellung, dass sich die Götter in höchstem Maße für ihn interessieren. Es gibt viele Darstellungen, die zeigen, wie der Pharao stets im Licht der göttlichen Aufmerksamkeit existiert. Auf diese Weise entsteht die Fantasie von einem absoluten Archiv, in dem das Tun und Lassen der wichtigen Menschen, des Pharaos und seiner Umgebung, dokumentiert wird – und nach der Demokratisierung des Jenseits sogar jedes Einzelleben. Nach Ablauf seiner Zeit wird dann der Einzelne nach Aktenlage abgeurteilt. Die Vorstellung eines Jüngsten Gerichts, wie wir sie dank der christlichen Tradition nach wie vor kennen, ist ja präfiguriert sowohl in altiranischen als auch in ägyptischen Totengerichtsmythen. Demnach müssen die Menschen sich nach ihrem Tod einer Herzwägung aussetzen. Das Herz wird auf die eine Waagschale gelegt, auf der anderen Seite stapelt man die schlechten Taten, und wenn die Letzteren überwiegen, wird das Herz an ein Monstrum verfüttert, das mit aufgerissenem Rachen hinter der Gerichtsschranke wartet. Die Guten, die den Freispruch erlangen, dürfen in ihre Grablege zurückkehren. Die Ägypter kannten keine Gutmenschen, aber die Figur der Gutmumien war ihnen wohl vertraut.

Auch Big Data ist, wenn man so will, ein ewiger Speicher. Ist die Theoskopie, wie Sie die göttliche Observierung nennen, in heutigen Überwachungstechniken aufgehoben?

Es ist ein Paradigmenwechsel festzustellen, insofern mit den heutigen Überwachungstechniken die traditionelle Überwachungsordnung obsolet gemacht wird. In Vorzeiten hatte man den Versuch unternommen, das göttliche Auge in das menschliche Innere zu implantieren. Das führte dazu, dass das Theoskop, das absolute Auge, in Form des Gewissens in der menschlichen Seele installiert werden sollte. In heutiger Zeit erscheint diese Überwachungstechnik durch Selbstüberwachung des personalen Gewissens als zu anspruchsvoll, obendrein als zu riskant, weil Menschen leicht hochmütig und übermütig werden, wenn man ihnen um ihrer Selbstüberwachung willen eine Teilhabe am göttlichen Auge zubilligt. Mit dem Seelenfunken-Gott ist eine Art innere Garnison beziehungsweise eine innere Polizeistation gemeint, die dafür sorgen sollte, dass Ruhe im Quartier eintrat. Jede Person sollte sich selber als ein unruhiges Viertel in der Gottesstadt begreifen und sich selbst beherrschen. Das ergab die alteuropäische Version der innengesteuerten Persönlichkeit. Also jener Persönlichkeit, die auf den Gedanken kommen konnte, so etwas wie unveräußerliche Menschenrechte zu besitzen. Für die heutige Zeit erscheint diese Persönlichkeitsidee zu aufwendig. Die Chinesen haben mit ihrer aktuellen Überwachungstechnologie gezeigt, dass Außensteuerung alles in allem ef•zienter ist, letztlich auch billiger, sofern man von den Kosten der totalitären Installation absieht.

Inwiefern billiger? 

An einem innengesteuerten Menschen muss man 25 Jahre lang arbeiten. Es bedarf sehr langer Bildungsprozesse, bis jemand sich so weit im Griff hat, dass er an der Arbeitsgesellschaft teilnehmen möchte oder kann – und dabei besteht immerzu ein beträchtliches Risiko, dass die Innengesteuerten zu Dissidenten werden. Darum verzichtet man heute auf die innere Polizeistation und den ganzen Gewissensluxus; man gibt den Leuten ein Huawei-Gerät in die Hand. Das ist eine Telekommunikationsmaschine, die aus der Benutzerperspektive dazu dient, mit anderen Menschen Kontakt zu pžegen, das aber aus der Herstellerperspektive ein ideales Tracking des Benutzers erlaubt. Viel mehr braucht es nicht, um Ruhe ins Quartier zu bringen. Anders gesagt: An die Stelle Gottes tritt ein Telekom-Unternehmen, das alles durchleuchtet.

Bemerkenswert daran ist die Freiwilligkeit. Menschen tragen die Geräte aus eigenen Stücken mit sich herum. 

Ja, weil sie es für ein Kommunikationsgerät halten. Sie glauben ja wirklich, sie werden zu Zauberern, indem sie es benutzen. Sie sind davon überzeugt, erfolgreiche Telepathie ausüben zu können. Ursprüngliche Magie war ja immer telepathisch intendiert. Der telepathische Wahn steckt im Subjekt selbst und seiner Intentionalität, und er ist schon im Spiel, wenn wir zum Himmel aufblicken oder uns vom Himmel her gesehen glauben. Erreichbarkeit aus der Ferne wie auch das Erreichenkönnen dessen, was fern ist: Solche Vorstellungen gehören zur ursprünglichen magischen Einbildungskraft. Die Menschen glauben inzwischen, dass sie ohne das telepathische Organ am Ohr nicht leben können. Früher hat man gebetet, heute hat man eben das Handy.

Das religiöse Ich, das dieses göttliche Auge immer auf sich spürt, wird möglicherweise auch beruhigt durch den Blick von oben. Geht es heutigen Subjekten ähnlich, wenn sie minütlich ihr Leben bei Instagram dokumentieren? Ist hier auch eine Art großer Anderer im Spiel, an den wir uns richten? 

Dazu passt jedenfalls die Beobachtung, dass die Leute in solchen Medien sich gern so unbekleidet zeigen, wie man es sonst nur vor Gott machen würde, oder vor dem Urologen. Das spricht für Ihre Hypothese. Im Allgemeinen dürfte gelten, dass der beobachtete Mensch sich besser benimmt. Wirkliche Missetaten werden ja immer in einer Zone begangen, in der die Täter fantasieren, dass ihnen nicht zugeschaut wird. Verbrechen werden fürs Erste ohne Zeugen begangen. Der Zusammenhang zwischen Wohlverhalten und Überwachung ist offenbar alt und sehr belastbar. Daher hat sich das Experiment „Über-Ich-gesteuerter Mensch“ über ein paar Jahrtausende lang aufrechterhalten lassen. Heute kehrt man mehr oder weniger resigniert zu den Techniken der Außenlenkung zurück. Damit einher geht eine Umstellung von der Schamkultur – sich schämen ist ja doch ein sehr privates und mächtiges Gefühl, nicht? – auf die äußerliche Blamage.

Was genau ist der Unterschied zwischen Scham und Blamage? 

Die Blamage wird nicht vom Schamgefühl geleitet, sie geht vom äußeren Tadel aus. Anthropologen unterscheiden zwischen Kulturen der Scham und solchen der Schande. Die Schande ist rein sozial, sie wird von außen verhängt, aber sie muss keinen inneren Niederschlag erzeugen. Man kann das an zeitgenössischen Individuen illustrieren. Wenn Sie zum Beispiel an Uli Hoeneß denken: Bei ihm hat sein eigenes Fehlverhalten wie auch der strafrechtliche Tadel, den er dafür erfahren hat, um es vorsichtig auszudrücken, in seiner Person keine sichtbaren Spuren hervorgerufen; wäre es anders, hätte er sich zurückgezogen. Offensichtlich entstehen vor unseren Augen neue Formen der außengesteuerten Existenz, die psychologisch noch nicht ausreichend beschrieben sind. Die Abdressur der Innerlichkeit ist allerdings eine Sache, die weiter zurückreicht. In zwölf Jahren feiern wir das 100-jährige Jubiläum von „Brave New World“, 1932 erschienen. Dort ist die Abdressur des Privaten bereits perfekt zu studieren. Die Fähigkeit, Glück und Unglück auf eigene Rechnung zu empfinden, wird den Bewohnern der schönen neuen Welt systematisch abgewöhnt. Beim ersten Anflug einer Indisposition nimmt man eine halbe Tablette Soma.

Eine letzte Frage: Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat die Wissenschaft, genauer die Virologie, als neue Religion bezeichnet. Schließen Sie sich an? 

Die Diagnose, die Agamben stellt, bietet eine Variante der Deutung, die Émile Durkheim kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert formulierte, nämlich dass die Gesellschaft sich in ihren Gottesvorstellungen selber verklärt. Die Wissenschaft ist ein Teilorgan der vergöttlichten Gesellschaft. Wie Gott hat die Gesellschaft die Fähigkeit, an allem schuld zu sein – das ist die moderne Variante von Schöpfungsglauben. Alles, was passiert, kann und soll ihr zur Last gelegt werden. Sie genießt darin ihre Allmacht. Sie möchte gerne an allem schuld sein können. •

Der Dialog fand auf der phil.cologne 2020 statt. Peter Sloterdijks Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ erschien bei Suhrkamp (352 S., 26 €).

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