Postkoloniale Piraten-Fantasien
David Graeber sucht jenseits von Europa nach dem Ursprung politischer Gleichheitsideen – und wird im Madagaskar des 17. und 18. Jahrhunderts fündig.
Was, wenn die Aufklärung nicht allein in den Salons von Paris und London und nicht vorrangig in den Köpfen rationalistischer Philosophen von Amsterdam über Halle bis Hannover entstanden ist? Sondern wir uns die historisch nicht unvernünftige Vorstellung eines internationalen Ideenaustauschs auch in der Frühneuzeit zu eigen machten – und im globalen Maßstab nach Vorläufern suchten? Das ist der Ausgangspunkt von David Graebers schmalem nachgelassenen Buch über Piraten und politische Bündnisse auf Madagaskar im 17. und 18. Jahrhundert.
Der große anarchistische Kulturanthropologe, Vordenker der Occupy-Bewegung und Verfasser einer fantastisch treffenden Analyse von bürokratischen Bullshit-Jobs arbeitete in seinen letzten Lebensjahren intensiv an der Neuschreibung historischer Großlinien der Menschheitsgeschichte. In seinem Buch Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, verfasst mit dem Archäologen David Wengrow und kurz vor seinem frühen Tod im Herbst 2020 vollendet, ging es dem westlichen Fortschrittsnarrativ von den Anfängen bis heute an den Kragen, inklusive der europäischen Aufklärung. Dort ist es der Huronen-Häuptling Kondiaronk, dessen Ansichten 1703 in einem französischen Bestseller auch Europa erreichten. Als wichtige intellektuelle Stimme wurde er in den – nunmehr nicht mehr rein westlichen – Aufklärungschor eingemeindet.
In Piraten führt Graeber das Unterfangen fort, die Aufklärung zu globalisieren. Im kraftvollen Vorwort legt er die theoretischen Grundlagen: Wenn man die postkoloniale Kritik am Eurozentrismus unserer Ideengeschichte ernst nimmt, dann muss man mehr tun, als „die Großen Männer der Geschichte nicht davonkommen lassen mit dem (offenkundig sehr realen) Rassismus, Sexismus und Chauvinismus“. Ein 400-seitiges Buch, das Rousseau attackiere, sei noch immer ein 400-seitiges Buch über Rousseau. Den intensiven Fokus auf westliche Verfehlungen, der in akademisch progressiven Kreisen mittlerweile Standard geworden ist, hält Graeber für tendenziell narzisstisch und moralistisch, für ein eher „schäbiges“ Vergnügen. Und stellt vielversprechend dagegen: „Die wahre Erzählung dessen, was sich in der menschlichen Geschichte zutrug, ist tausend Mal unterhaltsamer.“
Begegnung mit Piraten-Proletariern
Von einer solchen Aussicht einigermaßen verzückt, beginnt man mit der Lektüre von Graebers Mischung aus lustvoller Piratenerzählung und historisch-ethnologischer Detektivarbeit. Konkret befinden wir uns in Madagaskar, das am Ende des 17. Jahrhunderts zu einem beliebten Stützpunkt für Piraten wird, die sich mehr oder weniger geschickt eingliedern in die örtlichen politischen Verhältnisse, von Madagassinnen geehelicht werden und mit ihnen Kinder zeugen.
Ein solches interkulturelles Kind ist Ratsimilaho, der Anfang des 18. Jahrhunderts das politisch erfolgreiche Betsimisaraka-Bündnis auf Madagaskar begründet und als dessen Herrscher in die Geschichtsbücher eingeht. Graeber indes versucht mit viel historischer Relektüre zu zeigen, dass das Bündnis als Monarchie keineswegs korrekt beschrieben ist. Vielmehr hatte es einen egalitären Kern, auch dank der protodemokratischen Gleichberechtigung, die auf Piratenschiffen geherrscht habe. Die Fantasieversion dieser Geschichte gibt es (mutmaßlich) bei Daniel Defoe, dem Autor des Robinson Crusoe, dem das Werk Libertalia. Die utopische Piratenrepublik von 1724 zugeschrieben wird. Diese egalitäre Republik gilt freilich längst, und dem stimmt auch Graeber zu, als rein literarische Erfindung. Sein Buch, auf Englisch mit Pirate Enlightenment or The Real Libertalia betitelt, ist aber letztlich doch der Versuch, einen wahren Kern der Story zu finden.
Die Quellenlage dafür ist, das gibt Graeber selbst zu, dünn. Und das Buch verliert sich nach furiosem Auftakt schnell in zu vielen Details, deren Gesamtzusammenhang man sich immer wieder in Erinnerung rufen muss. Die Idee aber, dass Vorstellungen von politischer Gleichheit, um die unser Denken seit der Aufklärung kreist, erheblich beeinflusst gewesen sein könnten von madagassischen Traditionen in ihrer Begegnung mit europäischen Piraten-Proletariern, ist ebenso berückend wie die besten der althergebrachten Piratengeschichten. •
David Graeber
Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit
Übers. v. Werner Roller
Klett-Cotta, 256 S., 24 €
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